Montag, 22.10.2018

  Polen macht ernst: Zwangskastration für Sexualstraftäter


von Marco


23. Oktober 2009: Alle Argumente von Fachleuten und Menschenrechtlern halfen nichts: Der polnische Senat hat gestern eine umstrittene Gesetzesvorlage der Regierungskoalition verabschiedet, der die Zwangskastration von rechtskräftig verurteilten Sexualstraftätern vorsieht, die sich an Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren vergangen haben:

„Chemische Kastration“ für Kinderschänder eingeführt

Selten zeigte sich der polnische Senat so geschlossen: Die Verabschiedung des Gesetzes erfolgte ohne jede Gegenstimme bei nur einer Enthaltung. Die polnische Gesundheitsministerin Ewa Kopacz verteidigte das neue Gesetz gegenüber den Bedenken von Verfassungsrechtlern und Medizinern. Gestoppt werden könnte das neue Gesetz jetzt nur noch durch das polnische Verfassungsgericht, zumindest theoretisch. Aus diesem Anlass verweise ich noch einmal auf meinen Kommentar, den ich bereits vor einem Jahr geschrieben habe, als der Gesetzesentwurf erstmals bekannt gemacht wurde:

Ein Populist aus Polen

Die damaligen Argumente haben nichts von ihrer Aktualität verloren mit dem Unterschied, dass sie heute nichts mehr nützen werden. Trotzdem sehe ich es weiterhin als meine Pflicht an, auf derart gefährliche Irrwege hinzuweisen. Die meisten Leute wollen nicht begreifen, dass Sexualität im Kopf beginnt und nicht in den Sexualorganen. Sexualstraftäter haben kein Triebproblem. Sie haben ein Persönlichkeitsproblem, bei dem es ihnen an Selbstverantwortung und Opferempathie mangelt. Das sind schwer wiegende Defizite, die sich nicht medikamentös beheben lassen, sondern nur durch harte Arbeit an der Persönlichkeit und wie es einst ein Therapeut von mir ausdrückte durch „die knallharte Konfrontation mit den Gefühlen der Opfer.“


Auch kastrierte Täter können rückfällig werden

Eine Kastration (egal ob chemisch oder operativ) macht nur Sinn als unterstützende Maßnahme, wenn ein Sexualstraftäter den festen Willen hat, seine Sexualität zu kontrollieren, es aber aus eigener Kraft nicht schafft. Als alleinige Maßnahme die zudem noch gegen den Willen des Täters stattfindet verspricht sie eine illusorische Sicherheit, die sie niemals einlösen kann. Auch kastrierte Sexualstraftäter können rückfällig werden, wenn es ihnen an Einsicht mangelt; daraufhin hat Sexualtherapeut Christoph J. Ahlers von der Charité bereits vor einem Jahr ausdrücklich hingewiesen:

,Ausschließlich Medikamente und diese auch noch unter Zwang zu geben, ist keine sachverständige Behandlung. Medikamente allein führen nicht automatisch zu einer Verbesserung der Verhaltenskontrolle´, sagt Ahlers. Er plädiert für eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten.“

Ahlers warnt vor falschen Hoffnungen nach einer Kastration: ,Selbst real kastrierte Männer können noch rückfällig werden.´ Es komme darauf an, dass Medikamente in "eine qualifizierte Psychotherapie eingebettet" seien.“

(Quelle: EU-Politiker entsetzt über Polens Kastrationspläne)

Wie wenig sich die polnische Regierung sachkundig gemacht hat, zeigt ein Blick in die Fachliteratur. Bei bestimmten Tätergruppen gilt eine medikamtentöse Triebunterdrückung sogar als kontraindiziert:

Vorsicht ist geboten bei Patienten mit einer schweren antisozialen Persönlichkeitsstörung oder einer Psychopathie, da diese häufig keine ausreichende Behandlungscompliance aufbringen oder nur vortäuschen. Solche Patienten könnten die antihormonelle Therapie durch heimliche Einnahme von Androgenen unterlaufen. Selbst wenn man versucht, sich durch regelmäßige Laborkontrollen abzusichern, ist diese Form der Non-Compliance als mögliche Kontraindikation für eine antihormonelle Behandlung anzusehen.“

(Berner W., Briken P. (2007): „Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie) – Diagnostik, Ätiologie, Epidemiologie, und präventive Aspekte“, Bundesgesundheitsblatt Vol. 50, Nr.1, S. 41)

An solchen Aussagen sieht man, wie wenig ausgereift das polnische Gesetz ist: Gerade die Täter, die am gefährlichsten sind, wird man damit am wenigsten bändigen können. Ich sehe deshalb nur zwei Möglichkeiten: Sexualstraftäter, die dauerhaft rückfallgefährdet sind, gehören entweder in Sicherungsverwahrung oder sie werden vernünftig therapiert, das heißt mit Medikamenten und mit Psychotherapie. Wer uns weiß machen will, das Problem ließe sich durch einfaches Pillenschlucken lösen, der zeigt entweder einen skrupellosen Populismus oder eine erschreckende Unwissenheit über sexualmedizinische Zusammenhänge. Welches dieser Attribute man der polnischen Regierung eher vorwerfen kann, das ist die Frage. Nur eins hat sie ganz sicher nicht bewiesen, nämlich Kompetenz.
 

Menschenrechtliche und prakische Bedenken

Was die menschenrechtlichen Einwände angeht, da bin ich zwiegespalten, auch wenn ich es vor einem Jahr noch etwas anders gesehen habe. Natürlich ist eine chemische Kastration ein schwer wiegender Eingriff in den Hormonhalt ‒ und damit in die körperliche Unversehrtheit und letztendlich in die Menschenwürde. Medizinische Zwangsbehandlungen sollten nur in sehr eng umgrenzten Fällen zulässig sein, bei gesetzlich genau festgelegten Indikationen, unter strenger ärztlicher und richterlicher Kontrolle. Andererseits ist es in der Psychiatrie gängige Praxis, dass psychisch kranke Patienten (z. B. bei akuten Psychosen) auch gegen ihren Willen mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Diese Praxis wird von kaum jemandem in Frage gestellt, nur bei Sexualstraftätern soll die gleiche Verfahrensweise jetzt menschenrechtswidrig sein. Das ist nicht ganz schlüssig. Wer die Zwangsverbreichung von Medikamenten aus ethischen Gründen ablehnt, der muss sie generell und grundsätzlich ablehnen, aber nicht explizit für Sexualstraftäter.

Es gibt aus therapeutischer Sicht gute Gründe gegen eine Zwangsmedikation, aber die menschenrechtlichen Einwände sind für sich allein nicht überzeugend. Zumindest solange nicht, wie medikamentöse Zwangsbehandlungen in anderen Gebieten der Psychiatrie wie selbstverständlich toleriert werden. Die ethischen Gesichtspunkte bleiben ein ganz schwieriger Punkt, bei dem es auch für mich schwer ist, zu einer eindeutigen Position zu finden. Ganz entscheidend ist für mich aber folgende Überlegung: Will man eine medikamentöse Zwangsbehandlung von Sexualstraftäter ethisch legitimieren, dann muss aber auch wissenschaftlich abgesichert sein, dass eine derartige Behandlung Erfolg verspricht und die Rückfallgefahr tatsächlich signifikant senken kann. Dies ist meines Erachtens ‒ aus den dargelegten Gründen ‒ nicht der Fall. Im Gegenteil: Wenn selbst kastrierte Täter rückfällig werden können, dann ist therapeutische Wirksamkeit ‒ und damit der Schutz potentieller Opfer ‒ höchst zweifelhaft. Aus einer so unsicheren Methode lässt sich kein so schwer wiegende Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Straftäters rechtfertigen.

Ganz unabhängig von den ethischen und menschenrechtlichen Bedenken stellt sich noch die Frage der praktischen Durchführbarkeit. Eine medikamentöse Triebdämpung ist nur erfolgreich, wenn die entsprechenden Präparate regelmäßig eingenommen werden. Dies müsste anhand des Hormonspiegels im Blut kontrolliert werden. Doch wer soll diese regelmäßige Medikamenteneinnahme kontrollieren? Kaum eine Klinik und kaum ein Fachinstitut wird über das dafür notwendige Personal verfügen. Bereits heute gibt es viel zu wenige spezialisierte Fachärzte, die sich mit der Behandlung von Sexualstraftätern auskennen. Das wird in Polen nicht anders sein als in Deutschland. Man sieht also: Das ganze Gesetz ist auch in dieser Hinsicht noch viel zu wenig durchdacht.

aktualisiert: 30.04.2011