Montag, 22.10.2018

Ein Populist aus Polen


von Marco


30. September 2008:
Die Reaktionen auf die geplante Zwangskastration von Sexualstraftätern in Polen ziehen immer größere Kreise. Vielfach wurde in den letzten Wochen darüber berichtet; nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa. Einen guten Überblick über die bisherige Entwicklung bietet ein Artikel aus dem „Spiegel“:

EU-Politiker entsetzt über Polens Kastrationspläne

Er ist noch nicht einmal ein Jahr im Amt, und schon spricht ganz Europa über ihn. Vor gut drei Wochen trat Polens Regierungschef Donald Tusk mit seiner höchst umstrittenen Gesetzesvorlage an die Öffentlichkeit. Wer sich sexuell an Kindern vergeht, soll künftig per Gerichtsurteil zur Kastration gezwungen werden ‒ ob er damit einverstanden ist oder nicht.

Tusk scheute sich nicht, die verbalen Muskeln spielen zu lassen. Die „härtesten Strafen für Kinderschänder in ganz Europa“ will er in seinem Land einführen. Die Kastration soll dabei nicht Teil einer Therapie sein (was bereits heute möglich ist), sondern sie soll künftig schon m Urteil festgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Kastration als Strafe! Tusk geht sogar noch weiter: Straftäter, die sich an Kindern vergehen, bezeichnete Tusk nach übereinstimmenden Berichten mehrerer Tageszeitungen als „Kreaturen“, die ihre Menschenrechte verwirkt hätten. Die politische Opposition wie auch polnische Menschenrechtsverände verurteilten die rigorosen Pläne des Premierministers scharf. Sie seien menschenrechtswidrig und vollkommen unvereinbar mit der polnischen Verfassung. Zudem sei die lebenslange Sicherungsverwahrung gefährlicher Rückfalltäter in Polen bereits jetzt möglich.

Die EU betont, dass sie keine Möglichkeit habe, das Gesetz zu verhindern, denn das Strafrecht sei eine nationale Angelegenheit der Mitgliedsstaaten. Man könne die Pläne höchstens moralisch verurteilen. Inzwischen hat sich einer der bekanntesten Sexualtherapeuten Deutschlands in die Diskussion eingeschaltet. Dipl.-Psych. Christoph J. Ahlers von der Charité in Berlin bezeichnete die polnischen Pläne als „reinen Populismus“. Eine medikamentöse Behandlung würde nicht automatisch zu einer besseren Verhaltenskontrolle führen. Vor allem mahnte Ahlers dazu an, nicht ständig die Begriffe miteinander zu vermengen. Pädophilie sei nicht gleich Kindesmissbrauch. Nicht jeder Pädophilie würde Kinder missbrauchen, nur etwa ein Drittel aller gegen Kinder gerichteten Sexualstraftaten würden überhaupt von Pädophilen begangen. Das ist Basiswissen für jeden, der sich mit der Materie auskennt, doch gegenüber der uninformierten Öffentlichkeit kann solche Fakten nicht oft genug wiederholen.

Bei aller Ablehnung in der Fachwelt: An den Stammtischen hat Tusk für seine drastischen Vorschläge dagegen viel Sympathie geerntet. 84% der polnischen Bevölkerung unterstützen angeblich seine Pläne zur Zwangskastration. Diese breite Zustimmung wundert mich nicht, denn die wenigsten Menschen informieren sich, bevor sie sich über derart brisante Themen eine Meinung bilden; sie urteilen allein aus dem Bauch heraus. Wären die Leute besser informiert, dann hätten sie sich sehr viel kritischer mit ihrem Premierminister auseinander setzen. So aber bleiben nur einige Intellektuelle, die dem polnischen Staatsoberhaupt etwas entgegen zu setzen haben.

Tusks Pläne sind nicht nur hahnebüchener Unsinn, sondern auch eine gefährliche Volksverdummung. Sexueller Kindesmissbrauch ist kein Hormonproblem, sondern ein Persönlichkeitsproblem. Missbrauchstäter haben keinen höheren Hormonspiegel als andere Männer, dafür aber eine instabile und oftmals schwer gestörte Persönlichkeit. Was ihnen fehlt, sind Einfühlungsvermögen für ihre Opfer und die Fähigkeit zur bewussten Selbstkontrolle. Eine Kastration allein macht da wenig Sinn. Kastration bedeutet medizinisch gesehen nur, dass die Produktion des männlichen Sexualhormons Testosteron unterbunden wird. Dies kann durch die irreversible Entfernung der Hoden geschehen (operative Kastration) oder durch die Gabe von Antiandrogenen, die das Testosteron in seiner Wirkung neutralisieren. Das wäre die so genannte „chemische Kastration“, wie Tusk sie jetzt vorschlägt.

Doch weder die operative noch die chemische Kastration bieten eine tatsächliche Sicherheit vor sexuellen Übergriffen. Eine Kastration ist nämlich keineswegs so unumkehrbar, wie man immer denkt. Testosteron kann man nämlich auch nach erfolgter Kastration von außen zuführen ‒ in Form von Tabletten, Pflastern oder Spritzen. Testosteron-Präperate kann man heutzutage übers Internet bestellen, auf jeden Fall bekommt man sie über dunkle Kanäle auf dem Schwarzmarkt; z. B. in der Dopingszene beim Sport, wo Testosteron zum beschleunigten Muskelaufbau verwendet wird. Auf diese Weise kann auch ein kastrierter Sexualtraftäter seinen Trieb wieder reaktivieren ‒ und weiter Kinder missbrauchen!

Eine Kastration von Sexualstraftätern macht deshalb nur Sinn, wenn sie eingebettet ist in ein mehrgleisiges Gesamtkonzept, das vor allem dort ansetzt, wo es am nötigsten ist; nämlich bei der gestörten Persönlichkeit. Diese erreicht man aber nur über psychotherapeutische Maßnahmen. Eine chemische (oder auch operative) Kastration kann eine wirkungsvolle Unterstützung sein, wenn ein Täter den festen Willen hat, sein Verhalten zu ändern, es aber aus eigener Kraft nicht schafft. Als isolierte Maßnahme wird sie keinen einzigen Täter zur Einsicht bringen oder gar „zahm“ machen. Wer die Zwangskastration von Sexualstraftätern als vermeintlichen Sicherheitsgewinn verkaufen will, betreibt eine gefährliche und unverantwortliche Augenwischerei.

Natürlich sind auch die menschenrechtlichen Einwände der polnischen Opposition mehr als berechtigt, denn eine Kastration ist ein schwer wiegender Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Täters ‒ und damit sowohl nach deutschem als auch nach polnischem Recht verboten. Dass muss auch so bleiben, denn die universelle Gültigkeit der Menschenrechte ist eine der höchsten Errungenschaften menschlicher Zivilisation und darf niemals in Frage gestellt werden. Ansonsten sägen wir an dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Wenn der polnische Premierminister Sexualstraftätern sogar die Menschenwürde abspricht, dann scheint er ein sehr gespaltenes Verhältnis zu den Menschenrechten und damit zu den Grundpfeilern unserer Zivilisation zu haben. Seinem Land tut er damit bestimmt nichts Gutes, wo Polen doch mit aller Macht in Richtung Westen strebt. Als EU-Mitglied darf Polen sich solche Diskussionen noch nicht einmal im Ansatz erlauben.

Von sexualmedizinischen Zusammenhängen scheint Tusk erst recht keine Ahnung zu haben. Er ist ein reiner Populist ‒ wie so viele seine politischen Kollegen auf der ganzen Welt. Wenn Tusk wissen will, wie wirkliche Rückfallprävention und wirklicher Kinderschutz aussehen, dann sollte er sich das nächste Mal mit Sexualmedizinern unterhalten, bevor er noch einmal so große Töne spuckt, die sich bei genauem Hinsehen sofort als Seifenblasen entpuppen.

Lobenswert finde ich in diesem Zusammenhang die Berichterstattung im „Spiegel“, der sehr ausgewogen berichtet und auch die Kritiker umfassend zu Wort kommen lässt. Besonders gefreut habe ich mich, dass man mit Christoph J. Ahlers einen ausgewiesenen Fachmann zur Sache befragt hat. In Polen wird Ahlers sicherlich kein Gehör finden, aber vielleicht kann er mit seinen fundierten Klarstellungen wenigstens hier in Deutschland dafür sorgen kann, dass der dumpfe Enthusiasmus nicht einfach übernommen wird.

Leider findet man diese differenzierte Berichterstattung nicht bei alle deutschen Medien. Viel zu oft findet man immer noch die unerträgliche Gleichsetzung von Pädophilen mit Sexualstraftätern, so z. B. beim Nachrichtenmagazin n-tv oder auch bei einem so populären Magazin wie dem „Stern“. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass ein Großteil der Journalisten noch immer nicht seine Hausaufgaben gemacht hat. Ahlers fand dagegen genau die richtigen Worte: Pädophilie ist nicht gleich Kindesmissbrauch. Nicht jeder Pädophilie missbraucht Kinder, nur etwa ein Drittel aller gegen Kinder gerichteten Sexualstraftaten würden überhaupt von Pädophilen begangen. Das ist Basiswissen für jeden, der sich mit der Materie auskennt, aber gegenüber der uninformierten Öffentlichkeit bleibt es wahrscheinlich ein Tropfen auf dem heißen Stein.

aktualisiert: 30.04.2011