Montag, 22.10.2018

Was ist Pädophilie?

 

Der Begriff Pädophilie ist zwar schon seit über 100 Jahren gebräuchlich, zum Gegenstand systematischer Forschung wurde er jedoch erst sehr viel später. Lange Zeit wurde die Pädophilie auch von der Sexualmedizin sehr stiefmütterlich behandelt und oftmals nur auf ihre strafrechtliche Seite reduziert. Sie galt bestenfalls als Fall für den Forensiker, der in geschlossenen Anstalten mit Sexualstraftätern arbeitet. Nicht straffällig gewordene Pädophile wurden kaum zum Gegenstand sexualmedizinischer Begutachtung; schon allein deshalb nicht, weil sie sich aus Scham und Angst vor gesellschaftlicher Verachtung kaum jemals über ihr Problem zu sprechen trauten. Sicherlich mit ein Grund, warum sich in der breiten Bevölkerung ein sehr unklarer Pädophilie-Begriff breit machte, auf den alle möglichen Ängste und Aggressionen projiziert wurden.

Der Begriff Pädophilie stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich soviel wie „Kinderliebe“ bzw. „Liebe zu Kindern“. Doch das ist natürlich in der heutigen Bedeutung des Wortes nicht mehr damit gemeint. In der Sexualwissenschaft versteht man unter Pädophilie das sexuelle (und häufig auch emotionale) Interesse eines Erwachsenen am Körper und am Wesen eines Kindes. Insoweit kann sich eigentlich jeder etwas darunter vorstellen. Doch wie definiert die Wissenschaft diesen Begriff? Wann ist es gerechtfertigt, von Pädophilie zu sprechen und wann nicht?

Diagnosemerkmale

Der Begriff selbst stammt von dem deutsch-österreichischen Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902). Im Jahr 1896 verfasste er sein berühmtes Werk Psychopathia Sexualis, das für viele Jahre zum Standardwerk der Sexualpathologie werden sollte. In diesem Buch beschrieb er erstmals auch die charakteristischen Merkmale der Pädophilie.1) Die wichtigsten davon sind:

● Das sexuelle Interesse richtet sich auf Kinder vor der Pubertät oder auf Kinder, die sich in einem frühen Stadium der Pubertät befinden.

● Das sexuelle Interesse an Kindern ist primär; das heißt, das Interesse an erwachsenen Sexualpartnern ist entweder nicht vorhanden oder nur sehr nachrangig ausgeprägt.

● Das sexuelle Interesse an Kindern ist zeitlich stabil und besteht nicht nur vorübergehend.

Für diese tief in der Persönlichkeit verankerte sexuelle Zuneigung zu Kindern prägte von Krafft-Ebing den Begriff Pädophilia Erotica. Seine über 100 Jahre alten Diagnosekriterien gelten in ihren Grundzügen bis heute. Da die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten heute weitaus fortgeschrittener sind, kamen im Laufe der Zeit noch weitere Merkmale hinzu, so dass man heute über recht gute Möglichkeiten verfügt, eine pädophile Ausrichtung zuverlässig zu diagnostizieren. So hat man sich unter Fachleuten darauf z. B. geeinigt, nur dann von Pädophilie zu sprechen, wenn zwischen beiden Partnern ein Altersabstand von mindestens fünf Jahren besteht.2) Dies hat einen einfachen Grund: Man will sexuelle Beziehungen zwischen geschlechtsreifen Jugendlichen, die sich beide noch in der Pubertät befinden, nicht pathologisieren. Solche Beziehungen sind zwar rechtlich verboten, sofern einer der Partner unter 14 Jahre alt ist, trotzdem sind sie anders zu bewerten als eine Beziehungskonstellation, in der sich ein Erwachsener an einem vorpubertären Kind vergeht.

Ein 16-Jähriger, der mit einer 13-Jährigen schläft (die sich ebenfalls schon in der Pubertät befindet), ist also noch lange nicht pädophil; auch wenn es sich rechtlich gesehen um einen sexuellen Missbrauch handelt. Von Pädophilie spricht man in der Sexualmedizin erst dann, wenn sich ein Erwachsener (oder ein älterer Jugendlicher am Ende der Pubertät) zu Kindern hingezogen fühlt, die selbst noch nicht in der Pubertät sind. Des Weiteren geht man heute davon aus, dass der Betroffene selbst mindestens 16 Jahre alt sein sollte, bevor er als pädophil diagnostiziert werden kann, denn erst ab der Spätpubertät kristallisiert sich eine bleibende sexuelle Präferenz heraus.

Eine sexuelle Präferenz kann man veranschaulichen mit einem System im Kopf eines jeden Menschen, dass die Menschen in unserer Umgebung mit einem abgespeicherten Bild vergleicht. Dieses System bewertet das Körperschema unserer Mitmenschen und hängt ihnen quasi ein Label „sexuell attraktiv“ an oder auch nicht. Meist ist dort das ausgewachsene „Bild“ des jeweils anderen Geschlecht abgespeichert (Heteros). Teilweise können je Bilder beider Geschlechter sein (Bi) oder eines vom gleichen Geschlecht (Homophilie). Diese Bilder entscheiden, von welcher Menschengruppe man sich grundsätzlich auch mehr als nur freundschaftliche Nähe wünscht. Es sind außerdem verstärkte Bedürfnisse nach Akzeptanz, angenommen sein, emotionaler Nähe etc. die man nur diesen Menschen gegenüber aufbaut ‒ natürlich bei Weitem nicht allen diesen gegenüber. Im Falle einer Pädophilie hat das Gehirn sozusagen ein kindliches Körperschema als Referenzbild abgelegt, oder ein kindliches nebst einem erwachsenen. Das führt zu der speziellen Wahrnehmung von Kindern durch Pädophile. Und die eigenen Bedürfnisse nach Nähe projizieren sehr viele Menschen gern auf andere.

Man unterscheidet zwischen ausschließlich Pädophilen (die sich sexuell nur von Kindern angezogen fühlen) und nicht ausschließlich Pädophilen, die neben ihrer pädophilen Hauptströmung durchaus auch mit erwachsenen Partnern etwas anfangen können. Für die ausschließlich (oder zum überwiegenden Teil) auf Kinder gerichteten Pädophilen gibt es heute diverse Fachausdrücke, die aber nicht allgemein geläufig sind. Die meisten Fachleute sprechen von Kernpädophilen, um deutlich zu machen, dass die pädophile Ausrichtung tief im Persönlichkeitskern der Betroffenen verankert ist. Daneben spricht man auch von Primärpädophilen, von originären oder strukturierten Pädophilen, womit sinngemäß immer das Gleiche gemeint ist: Das sexuelle Interesse für Kinder ist zeitlich stabil und überwiegt alle anderen sexuellen Vorlieben. Diese Bezeichnungen werden oft auch dann verwendet, wenn es darum geht, pädophil ausgerichtete Missbrauchstäter von anderen Tätergruppen abzugrenzen (siehe: Sind alle Missbrauchstäter pädophil?).

Die Pädophilie-Diagnose sagt nichts darüber aus, ob sich der Betroffene sexuell zu Jungen oder zu Mädchen hingezogen fühlt; hierfür gibt es selbst in der Fachwelt keine begriffliche Unterscheidung. Man spricht lediglich von „homosexuellen“, „heterosexuellen“ und „bisexuellen Pädophilen“.2) Gelegentlich (vor allem in den Medien) findet man auch Bezeichnungen wie „homopädophil“ oder „heteropädophil“, die aber eher der Umgangssprache zuzuordnen sind. Der erste Vorschlag zu einer geschlechtsspezifischen Differenzierung der Pädophilie stammt von Dr. Christoph J. Ahlers, dem langjährigen wissenschaftlichen Projektleiter am Präventionsprojekt „Dunkelfeld“ der Berliner Charité. Die sexuelle Erregbarkeit durch vorpubertäre Jungen bezeichnet er als Puerphilie (von lat. „puer“ = Junge), für die sexuelle Erregbarkeit durch vorpubertäre Mädchen schlägt er den Begriff Puellaphilie (lat. „puella“ = Mädchen) vor. Diese Unterscheidung ist aber selbst in der Fachwelt noch nahezu unbekannt und taucht bislang nur in der Dissertation von Ahlers auf.3)

Definitionen aus der Fachwelt

Auch namhafte Sexualforscher haben sich mit dem Phänomen der Pädophilie beschäftigt. In einem wissenschaftlichen Fachaufsatz, der von Therapeuten der Charité in Berlin verfasst wurde, heißt es zur Definition der Pädophilie:

„Pädophilie ist die ausschließliche oder überwiegende sexuelle Ansprechbarkeit durch vorpubertäre Kinderkörper. Über das sexuelle Verhalten einer Person sagt der Begriff nichts aus, sondern lediglich über die sexuelle Ausrichtung (s.o.) auf das präferierte präpubertäre Alter potentieller begehrter Sexualpartner.“
(Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): „Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10.“, Sexuologie 12 (3/4), S. 145)

Der Sexualforscher Prof. Gunter Schmidt kommt zu dem Ergebnis, dass es den typischen Pädophilen nicht gibt, sondern dass die Pädophilie (wie andere Sexualformen auch) in allen möglichen Variationen und Bandbreiten auftritt:

„Pädophile sind Männer, deren sexuelle Wünsche und deren Wünsche nach Beziehung und Liebe vorrangig oder ausschließlich auf vorpubertäre Kinder gerichtet sind, wobei diese drei Bereiche – Sexualität, Beziehung, Liebe – wie bei anderen Menschen auch unterschiedlich gewichtet sein können. Die Gruppe ist sehr heterogen in Bezug auf das, was Pädophile begehren und was sie machen. Sie begehren Jungen oder Mädchen, unterschiedliche Altersgruppen, präferieren unterschiedliche sexuelle Praktiken (von der Exhibition bis zur Penetration); einige haben flüchtige Kontakte mit vielen Kindern, andere wollen – mal fürsorgliche, mal manipulative – langfristige Partnerschaften; viele sind rücksichtsvoll gegenüber Kindern, andere üben Zwang, sehr wenige Gewalt aus; einige bedienen sich des mafiös strukturierten freien Marktes, der die verbotenen Sexualitäten, nicht nur die mit Kindern, brutalisiert (Kinderpornos, Kindertausch, Kinderprostitution); andere, eine unbekannte Zahl, vielleicht sogar die meisten Pädophilen, sind lebenslang oder über lange Perioden hinweg abstinent, belassen ihre Wünsche in der Phantasie und führen mit großem seelischem Aufwand ein verzichtreiches Leben. Kurz, Pädophilie ist eine Sexualform, die, wie Hetero- und Homosexualität, sehr unterschiedliche Erscheinungsformen hat.“
(Gunter Schmidt: „Über die Tragik pädophiler Männer“, Zeitschrift für Sexualforschung Nr.2/99, S.133-139)

Es wird schnell deutlich, dass dieses Beschreibung nicht viel mit dem weit verbreiteten Klischee vom finsteren Triebtäter zu tun hat. Dennoch ist Schmidt weit davon entfernt, die Pädophilie zu romantisieren oder zu verklären. Im selben Atemzug benennt er nämlich die unausweichliche Tragik, die mit ihr verknüpft ist:

„Dennoch besteht ein prinzipieller Unterschied: Es geht um einen Erwachsenen und ein Kind, nicht wie bei Hetero- und Homosexualität um in etwa gleich starke Partner, sondern um ungleich starke. Und dieses Machtungleichgewicht gefährdet die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes, droht sie zu überfahren.“
(Gunter Schmidt: „Über die Tragik pädophiler Männer“, Zeitschrift für Sexualforschung Nr.2/99, S.133-139)

Diese unausweichliche innere Tragik, also die Tatsache, dass sich das sexuelle Interesse auf einen prinzipiell unterlegenen Partner richtet, gehört ebenso zum Wesensmerkmal der Pädophilie wie die sexuellen Gefühle selbst. Dennoch wird bei allen Definitionen deutlich, dass der Begriff Pädophilie lediglich eine sexuelle Präferenz beschreibt, also eine Vorliebe. Er sagt nichts darüber aus, wie der Betreffende mit dieser Vorliebe umgeht, ob er seine Neigung auslebt und wie er sich im realen Leben gegenüber Kindern verhält. Es ist daher nicht zulässig, den Begriff Pädophilie mit sexuellem Missbrauch gleichzusetzen, wie es in der Öffentlichkeit leider allzu gern getan wird. Eine pädophile Ausrichtung kann dazu führen, dass sich jemand sexuell an Kindern vergeht, sie muss es aber nicht. Eins darf man dabei nicht vergessen: Eine pädophile Ausrichtung schwebt niemals im luftleeren Raum, sondern sie ist Teil einer ganz individuellen Persönlichkeit.

Nur wenn man diese Persönlichkeit eines Pädophilen kennt, kann man auch einschätzen, wie es um seine Selbstkontrolle bestellt ist und ob möglicherweise eine Gefahr von ihm ausgeht. Hier gibt es viele Faktoren zu berücksichtigen, die zum Teil noch viel entscheidender sind als die Neigung selbst: Verantwortungsbewusstsein, Empathievermögen, Gewissen, Triebstärke, Intelligenz, Impulskontrolle oder psychische Stabilität – all diese Persönlichkeitsmuster muss man mit einbeziehen, wenn man beurteilen will, ob jemand seine Sexualität unter Kontrolle halten kann oder nicht. Oder anders ausgedrückt: Es gibt nicht „die“ Pädophilie als verselbstständigte Ausrichtung, sondern immer nur den einzelnen Pädophilen, den man als ganzen Menschen sehen muss, bevor man ihm gerecht werden kann. Jeder Pädophile ist einzigartig und jeder hat seine ganz eigenen Wege, mit seiner Sexualität umzugehen.

Literatur:

1) Richard von Krafft-Ebing: „Psychopathia sexualis“ Neuauflage 1997, Matthes & Seitz Berlin

2) Berner W., Hill A, Briken P, Kraus Ch., Lietzt K. (2007): „Störungen der sexuellen Präferenz“, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Darmstadt 2007

3) Ahlers, Ch. J. (2009): „Paraphilie und Persönlichkeit – Eine empirische Untersuchung zur Prävalenz von Akzentuierungen der Sexualpräferenz und ihrem Zusammenhang mit dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit“, Berlin 2009

aktualisiert: 11.12.2011