Sexueller Missbrauch: Ist das Zölibat schuld?
von Marco
18. Februar 2010: Es war zu erwarten, dass die katholische Kirche sich nach den öffentlich gewordenen Missbrauchsfällen am Berliner Canisius-Kolleg verteidigen wird. Die Reaktionen sind vielfältig und reichen von glaubhafter Selbstkritik 1) bis zu plumpen Schuldabwälzungen auf die „sexuelle Revolution“, wie sie kürzlich von Bischof Mixa geäußert wurden.2) Ganz aktuell äußert sich der Theologe und Psychiater Dr. Manfred Lütz gegenüber den katholischen Nachrichten von „Kath.net“:
Difficile est satiram non scribere
Lütz benennt sexuellen Missbrauch durch Geistliche als ein „besonders abscheuliches Verbrechen“, will aber das System der Katholische Kirche selbst nicht hinterfragt wissen. Stattdessen verweist er darauf, dass alle Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, immer auch Menschen anziehen, diese diese Kontakte missbrauchen wollen. Pauschalkritik an der Kirche oder am Zölibat bezeichnet er als „Missbrauch mit dem Missbrauch“; als eine „gefährliche Desinformation, die Täter schützt.“. Der Zölibat begünstige keinen sexuellen Kindesmissbrauch, sondern sei ein „Bollwerk gegen Kindesmissbrauch“ für jeden, der sich daran hält. Außerdem verweist Lütz darauf, dass es sich bei den Vorfällen am Canisuis-Kolleg um „Altfälle“ aus den 70er- und 80er- Jahren handelt. Inzwischen habe die Kirche seit dem Jahr 2002 eine ganze Reihe an Maßnahmen getroffen, um solche Vorkommnisse bereits im Vorfeld zu verhindern.
Bis zu einem bestimmten Punkt stimme ich Lütz zu: Eine aggressive Rundumkritik an der katholischen Kirche ist wenig hilfreich und geht an der Sache vorbei. Das Zölibat führt für sich allein nicht zum sexuellen Missbrauch von Kindern. Es kann auch nicht pauschal für die jetzt aufgedeckten Missbrauchsfälle verantwortlich gemacht werden. Vor einer Glorifizierung der katholischen Sexualmoral muss aber genauso gewarnt werden, denn das Zölibat ist zwar für sexuellen Missbrauch nicht direkt verantwortlich, es schützt aber auch nicht davor. Wer das Zölibat als „Bollwerk gegen Kindesmissbrauch“ bezeichnet, der verkennt, dass das Zölibat immer auch Menschen angezogen hat, die vor ihren sexuellen Problemen davon liefen. Darunter gab es auch immer schon Menschen mit problematischen Sexualpräferenzen, die sich der trügerischen Hoffnung hingaben, sie könnten hinter Klostermauern in einem asexuellen Raum leben, wo sich ihre sexuellen Probleme gewissermaßen in Luft auflösen würden. Gerade für Pädophile, die ohnehin zölibatär leben müssen, bietet ein Beruf als Pfarrer oder Priester eine ideale Möglichkeit, aus der Not eine Tugend zu machen. Diese Hoffnung kann sich aber nicht erfüllen, denn vor der eigenen Sexualität kann man nicht davonlaufen. Ich behaupte sogar: Wer zölibatär leben will, muss sich sehr viel bewusster mit seiner Sexualität auseinander setzen als jemand, der sie auslebt. Das ist vielen jungen Männern nicht bewusst, bevor sie sich für eine Laufbahn als Priester entscheiden.
Hier wäre die katholische Kirche gefordert, noch sehr viel klarer darauf hinzuweisen, für wen das Zölibat geeignet ist und für wen nicht. Das Zölibat mag geeignet sein für Menschen, die mit sich und ihrer Sexualität im Reinen sind; die sich bewusst mit ihren sexuellen Bedürfnissen auseinander gesetzt und ebenso bewusst dafür entschieden haben, diese Bedürfnisse nicht auszuleben, sondern sie auf spiritueller Ebene zu kompensieren. Das Zölibat ist nicht geeignet für Menschen mit schweren sexuellen Problemen, die sich der Hoffnung hingeben, diese würden durch das Zölibat verschwinden. Deshalb bin ich der Meinung, dass insbesondere Pädophile sich nur dann für den Beruf des Priesters entscheiden sollten, wenn sie sich gleichzeitig in therapeutische Begleitung begeben, wo sie die notwendige Hilfe bekommen, die das Zölibat ihnen allein nicht bieten kann.
Das Zölibat ist also nicht der alleinige Sündenbock, aber auch nicht so unproblematisch, wie die katholische Kirche es gerne darstellt. Gerade von einem Psychiater erwarte ich, dass er diese Problempunkte erkennt und offen anspricht. Dies hat Lütz leider nicht getan, stattdessen bringt auch er (wie viele seiner Kollegen) ganz geschickt Nebenschauplätze ins Spiel, die mit der Sache wenig zu tun haben, z. B. die Pädophilie-Diskussion von 1970 oder die Rolle der katholischen Kirche als „Ersatzvater“ in der heutigen „vaterlosen Gesellschaft“. Fast scheint es, Lütz ist hin- und hergerissen zwischen seinem Objektivitätsanspruch als Mediziner und seiner Loyalitätsverpflichtung gegenüber der katholischen Kirche.
Überhaupt ist es erschreckend, wie wenig Lütz als Arzt mit den medizinischen Fachbegriffen vertraut ist. Er spricht z. B. von „Pädophilieentkriminalisierern“ , so als sei die bloße pädophile Neigung bereits eine Straftat. Dabei ist die Diagnose „Pädophilie“ in der Sexualmedizin als sexuelle Präferenzstörung definiert und nicht als sexuelle Verhaltensstörung in Form realer sexueller Übergriffe auf Kinder. Es ergibt ein ganz schwaches Bild, wenn ein studierter Psychiater (der neuerdings auch populärwissenschaftliche Sachbücher schreibt) die grundlegenden Fachbegriffe nicht auseinander halten kann. Wer sich zu einem so wichtigen und schwierigen Thema äußert, sollte vorher seine fachlichen Hausaufgaben gemacht haben!
Quellen:
1) SPIEGEL ONLINE, 18.02.2010
2) Augsburger Allgemeine Zeitung, 16.02.2010