Montag, 22.10.2018

Ein Kriminologe und sein Halbwissen


von Marco


9. März 2010:
Der MDR brachte gestern ein Radio-Interview mit Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Pfeiffer sprach über den Zusammenhang zwischen Pädophilie und Zölibat, über Therapiemöglichkeiten für Pädophile und über die Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch:

Debatte um Verjährung bei sexuellem Missbrauch

Richtig ist zunächst Pfeiffers Feststellung, dass das Zölibat nicht ursächlich für sexuellen Kindesmissbrauch verantwortlich ist. Sehr lobenswert auch, dass Pfeiffer sich für Präventionsprojekte nach dem Vorbild der Berliner Charité einsetzt. Dann macht er jedoch eine Aussage, über die ich angesichts der darin enthaltenen Naivität nur den Kopf schütteln kann:

Man weiß nach der Pubertät, ob man pädophil ist oder nicht. Erst wesentlich später entscheidet man sich für einen Beruf.“

Prof. Pfeiffer mag ein profilierter Kriminologe sein, zum Thema Pädophilie kann er aber allenfalls mit Halbwissen glänzen. Pfeiffer scheint nie mit pädophil empfindenden Menschen gearbeitet zu haben, sonst wüsste er, dass ein Großteil der Pädophilen ihre sexuelle Identität erst im Erwachsenenalter realisiert, wenn die beruflichen Weichen längst gestellt sind. Natürlich tauchen die ersten Fantasien bereits in der Pubertät auf. Es gibt tatsächlich Jugendliche, die schon im Alter von 16 oder 17 Jahren sehr klar für sich erkennen: „Ich bin pädophil!“ Nach meiner Erfahrung ist das aber die absolute Ausnahme. Die meisten Pädophilen verdrängen ihre sexuelle Identität, so lange es nur geht, weil sie sich unendlich dafür schämen und nicht die Kraft aufbringen, sich eine derart problematische Neigung einzugestehen. Hinzu kommt, dass Menschen mit pädophiler Sexualpräferenz ‒ selbst wenn sie niemals straffällig wurden ‒ zu den am meisten geächteten Randgruppen dieser Gesellschaft gehören. Das macht es jungen Pädophilen zusätzlich schwer, sich ihre sexuelle Ausrichtung einzugestehen, denn wer fühlt sich schon wohl bei dem Gedanken, einer geächteten Randgruppe anzugehören?

Die Lebensperspektiven für Menschen mit pädophiler Neigung sind nicht gerade rosig: Man muss ich mit dem Gedanken an eine Lebenslange sexuelle Abstinenz einstellen und an eine übermenschliche Selbstdisziplin. Außerdem muss man sich immer der Gefahr der sozialen Ausgrenzung bewusst sein, falls etwas nach außen dringt. Da ist es kein Wunder, wenn sich gerade junge Pädophile an jeden Strohhalm klammern und sich sagen: „Vielleicht ist das nur eine vorübergehende Phase, vielleicht werden diese Fantasien mit Kindern bald wieder verschwinden!“ Ich weiß von mir selbst, wie unendlich schwer es ist, sich die Wahrheit einzugestehen. Den Gedanken, pädophil zu sein, weist man von sich, lange es nur geht, denn „so einer“ möchte man auf keinen Fall sein. Nicht wenige Pädophile gehen sogar sexuelle Beziehungen mit erwachsenen Partnern ein ‒ in der Hoffnung, dass sich die eigene Sexualität dadurch wieder „normalisiert“. Diese Hoffnung kann natürlich nur enttäuscht werden. Bevor es aber soweit ist, dass die selbst aufgebaute Fassade zusammenbricht, hat man nicht selten schon die 30 überschritten.

Auch ich habe meine pädophile Identität viele Jahre erfolgreich verdrängt. Erst im Alter von 30 Jahren war ich stark genug, mich der Wahrheit zu stellen und mir einzugestehen: „Ich bin pädophil und werde mein Leben lang auf das Ausleben meiner Sexualität verzichten müssen!“ Diese Selbsterkenntnis ist schmerzlich und erfordert eine große innere Stärke. Im Prinzip hat Prof. Pfeiffer Recht:, wenn er sagt, eine pädophile Ausrichtung manifestiert sich in der Pubertät. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ein Pädophiler sich auch von Jugend an als pädophil wahrnimmt. Pfeiffer übersieht die vielfältigen Abwehr- und Verdrängungsmechanismen, die einer frühzeitigen Selbsterkenntnis entgegenstehen. Von daher ist es eine ungerechtfertigte Unterstellung, wenn Pfeiffer behauptet, Pädophile wären sich zum Zeitpunkt der Berufswahl bereits über ihre sexuelle Identität im Klaren. Das Gegenteil ist der Fall: In der Regel kommt die Selbsterkenntnis als Pädophiler zu einem Zeitpunkt, wo die beruflichen Weichen längst gestellt sind.

Es gibt kaum ein spektakuläres Verbrechen, zu dem sich Pfeiffer nicht äußert. Egal, ob Amoklauf, Geiselnahme oder Sexualmord: Spätestens am nächsten Tag flimmert sein Gesicht über alle Fernsehschirme und erklärt uns, warum die Welt so schlecht ist, die Menschen so böse und was man dagegen tun kann. Das ist (fast) so sicher wie das Amen in der Kirche. Mir wäre es mir lieber, Pfeiffer würde sich öfter mal zurücknehmen und im Zweifel auch mal ein Interview absagen, bevor er sich zu Themen äußert, zu denen er nicht das nötige Hintergrundwissen hat. Nichts schadet der Sache mehr als Fachleute, die in aller Öffentlichkeit Fehlinformationen verbreiten, auch dies in gut gemeinter Absicht geschieht.

Unterstützenswert finde ich dagegen Pfeiffers Forderung nach einer Verlängerung der Verjährungsfristen von Schadensersatzansprüchen im Zivilrecht. Ich kann das Argument gut nachvollziehen, dass Missbrauchsopfer aufgrund der Schwere ihrer Traumatisierung oft Jahrzehnte brauchen, bevor sie über ihre Erfahrungen sprechen können und stark genug sind, eine Gerichtsverhandlung durchzustehen. Dieser Umstand wird von Fachleuten inzwischen einhellig bestätigt, vom Gesetzgeber aber viel zu wenig berücksichtigt. Ob die Verjährungsfristen ganz aufgehoben oder nur deutlich ausgeweitet werden sollen, ist eine Frage, über die man diskutieren kann. Der Grundgedanke geht aber in die richtige Richtung und sollte in jedem Fall unterstützt werden!

aktualisiert: 30.04.2011