Wirbel um Kunstausstellung
von Marco
4. Mai 2008: Für reichlich Diskussionsstoff sorgt derzeit eine Ausstellung, die seit Anfang des Jahres in der MEWO Kunsthalle im bayerischen Memmingen zu sehen ist. Seit dem 27. Januar werden dort mehr als 400 Bilder des deutschen Fotografen Wilhelm von Gloeden (1856 – 1931) gezeigt. Von Gloeden gilt als Wegbereiter der Aktfotografie und wurde vor allem durch seine Nacktaufnahmen pubertierender Knaben bekannt, die er um die Jahrhundertwende im Stil griechisch-römischer Schönheitsideale ablichtete. Von Gloedens Werke waren von Anfang an höchst umstritten und wurden nicht selten als Pornographie angesehen. Während der Nazi-Zeit waren seine Werke in Deutschland verboten, viele seiner Bilder wurden zerstört. Heute fallen seine Aufnahmen am ehesten unter den Begriff der so genannten „Posingfotos“, womit sie rechtlich in einer Grauzone zwischen Kunst und Pornographie anzusiedeln sind.
Die Ausstellung der Werke von Gloedens sorgte in Memmingen schon im Vorfeld für heftige Aufregung. Das Jugendamt der Stadt kritisierte den „sorglosen Umgang mit dem Thema Knabenliebe“. Drastische Vergleiche wurden gezogen: Von Gloeden hätte seinerzeit nicht viel anderes getan als das, „was Pädophile und Päderasten heutzutage in Thailand oder Kambodscha tun“. Das Jugendamt forderte ein Verbot der Ausstellung, nach Anzeigen aufgebrachter Bürger wurde sogar die Polizei (!) eingeschaltet. Die Kripo begutachtete daraufhin die Bilder, fand aber nichts, was rechtlich als Kinderpornographie einzustufen und somit verboten wäre. Folglich gab es auch für die Verbotsforderung des Jugendamtes keine Grundlage. Lediglich ein Plakat mit nackten Knaben im Eingangsbereich wurde (wohl aus diplomatischen Gründen) wieder entfernt. Die „Süddeutsche“ berichtete bereits im Februar darüber:
„Es rumort ganz gewaltig in der Provinz“
Über den künstlerischen und ästhetischen Wert der Fotografien von Gloedens kann man streiten. Es ist unstrittig, dass seine Knabenfotografien ein Versuch waren, seine homosexuellen bzw. ephebophilen Neigungen zu bewältigen, die er zu seiner Zeit nicht straffrei hätte ausleben können. Klar ist auch, dass die Grenze zwischen Kunst und Pornographie manchmal fließend verläuft. Das ist alles nichts Neues. Neu ist allerdings die Vehemenz, mit der das Jugendamt hier auf den Plan tritt, bis hin zu der rigorosen Forderung, die Ausstellung einfach verbieten zu lassen. Eine Vehemenz, die mir eher nach moralischer Scheinheiligkeit aussieht als nach echtem Jugendschutz.
Die Werke von Gloedens sind sicherlich grenzwertig und für manchen auch anstößig, aber sind sie deshalb ein Fall für das Jugendamt oder gar die Polizei? Ich meine nein, denn Aufgabe des Jugendamtes ist es, Kinder vor konkreter Gefahr zu schützen und nicht, sich zum Moralhüter über Kunst und Kultur aufzuspielen. So fragwürdig von Gloedens Bilder auch sind: Die Probleme der Kinder von heute sind wichtiger als die Entrüstung über historische Fotografien. Das Jugendamt sollte lieber dort Präsenz zeigen, wo Kinder wirklich leiden; wo sie misshandelt, vernachlässigt und zu Tode geprügelt werden. In solchen Fällen zeigt sich das Jugendamt nämlich oft heillos überfordert, wie die vielen traurigen Fälle zeigen, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gelangt sind. Die Empörung über die Memminger Ausstellung wirkt da wie ein hilfloses Ablenkungsmanöver.
Genauso absurd ist der Vergleich zwischen von Gloedens Bildern mit den pädophilen Sextouristen von heute. Wer sich auch nur ansatzweise mit der Materie beschäftigt hat, der weiß, dass das unsägliche Leid, welches von Sextouristen verursacht wird, um ein Vielfaches schlimmer ist als das, was von Gloeden mit seinen Bildern jemals bewirkt hat bzw. hätte bewirken können. Wer zwei so unterschiedliche Problemfelder in derart oberflächlicher Weise miteinander gleichsetzt, der verharmlost und relativiert die wirklich verurteilenswerten Formen von sexueller Gewalt. Mit Pädophilie im eigentlichen Sinn haben von Gloedens Werke ohnehin nicht viel zu tun, denn die von ihm abgelichteten Knaben befanden sich (soweit mir ersichtlich) bereits in der Pubertät und fallen somit nicht mehr unter das kindliche Körperschema, das aus sexualmedizinischer Sicht maßgebend ist für das sexuelle Interesse der Pädophilen. Der Begriff der Pädophilie wurde hier wieder einmal als Totschlagargument benutzt, um moralische Entrüstung kundzutun. Diese unsachgemäße Verwendung des Pädophilie-Begriffs ist zwar Gang und Gäbe, aber beim Jugendamt, das sich mit dieser Thematik auskennen sollte, hätte ich ein wenig mehr Hintergrundwissen vorausgesetzt. Es ist erschreckend, welche Mischung aus Halbwissen und Effekthascherei hier an den Tag gelegt wird, gepaart mit einem moralischen Übereifer, der vielleicht in die 50er-Jahre gepasst hätte, aber nicht ins Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts.
Die Ausstellung in der MEWO Kunsthalle in Memmingen wird noch bis zum 26. Oktober zu sehen sein. Es kann gut sein, dass sich auch Pädophile (oder besser gesagt: Ephebophile) an den Bildern von Gloedens erfreuen, aber selbst wenn: Pädophile richten Schaden an, wenn sie Kinder missbrauchen, aber nicht, wenn sie eine Kunstausstellung besuchen. Ich selbst würde mir die Ausstellung nicht ansehen, denn von Gloedens Knabenbilder haben für mich nichts Ästhetisches oder Erregendes, sondern etwas unerträglich Kitschiges. Trotzdem gibt es wichtigere Probleme in diesem Land, über die es sich aufzuregen lohnt. Um Kinder aus schwierigen Familien zu betreuen, dafür fehlt dem Jugendamt angeblich das Personal, aber um gegen eine Kunstausstellung vorzugehen, dafür reicht das Personal dann wieder. Da fragt man sich wirklich: Wie viel Verlogenheit kann eine Gesellschaft ertragen?