Montag, 22.10.2018

Prof. Beier und seine Öffentlichkeitsarbeitchutz


von Marco


9. Februar 2010:
Professor Beier von der Charité hat viele gelungene Medienauftritte hinter sich, aber sein neustes Interview gegenüber dem Berliner „Tagesspiegel“ halte ich aus mehreren Gründen für missglückt. In der aktuellen Diskussion um die kürzlich bekannt gewordenen Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg meldet er sich mit einer provokanten These zu Wort:

„Pädophile Priester sollten ihr Amt behalten“

Einen solchen Satz halte ich in der aktuellen Situation für unangebracht, denn vor dem Hintergrund der jetzt aufgedeckten Missbrauchsfälle kann er eigentlich nur falsch verstanden werden; nämlich als Freibrief für die Täter. Von einem medienerfahrenen Mann wie Prof. Beier wünsche ich mir mehr Gespür, wie bestimmte Aussagen von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ich ahne, was Beier sagen will, aber er hätte stärker betonen sollen, dass er mit seiner Aussage nur die abstinent lebenden Pädophilen meint, die ihre Sexualität ausschließlich in der Fantasie belassen. „Pädophile Priester sollten ihr Amt behalten, solange sie ihre Neigung nicht ausleben!“ In dieser Formulierung hätte auch ich Beiers Aussage unterschrieben. Wer seine Vertrauensstellung als Priester missbraucht, um sich an Kindern sexuell zu vergehen, der hat sich dagegen schon aus moralischen Gründen für ein geistliches Amt disqualifiziert, von der Wiederholungsgefahr ganz abgesehen. Ich bin sicher, auch Prof. Beier sieht das nicht anders.

Ich stimme mit Beier überein, dass es Präventionsprogramme speziell für pädophile Priester geben sollte. Die Frage ist nur: Von wem soll die notwendige Initiative ausgehen? Von den Kirchen erwarte ich in dieser Hinsicht nicht viel, denn gerade im Katholizismus hat man schon zur „normalen“ Sexualität ein extrem neurotisches Verhältnis. Wie will man da einen offenen Umgang ausgerechnet mit einem so schwierigen Thema wie Pädophilie erwarten? Es wir wohl auch in Zukunft an staatlichen Instituten liegen, sich zu überlegen, wie man mit den bestehenden Präventionsprogrammen noch gezielter an pädophile Geistliche herantreten kann.


Macht das Internet pädophil?

Für höchst spekulativ halte ich Beiers Vermutung über den Zusammenhang von sexuellen Präferenzstörungen und Internetkonsum. Kein Jugendlicher wird pädophil oder sonstwie sexuell gestört, weil er zu lange vorm Internet sitzt ‒ so eine populistische Aussage kaufe ich selbst einem Prof. Beier nicht ab. Bildinhalte mit „stark normabweichenden sexuellen Praktiken“, wie Beier es nennt, sind auch im Internet nicht ohne Weiteres verfügbar, sofern man nicht gezielt danach sucht. Und selbst dann liegt es immer noch an den Eltern, dem Internetverhalten ihre Kinder Grenzen zu setzen. Ich bin sicher, dass die meisten Eltern dies auch tun. Es ist nur ein relativ kleiner Prozentsatz von sozial verwahrlosten Jugendlichen, die sich ohne jede Kontrolle im Internet bewegen. Es ist ehrenwert, wenn Beier vor berechtigten Gefahren warnt, aber er übertreibt maßlos.

Selbst wenn Jugendliche gelegentlich mit problematischen Bildern konfrontiert werden: Das Ansehen solcher Bilder kann krankhafte Vorlieben sicherlich verstärken; aber nur, wenn die innere Anlage schon vorher da war. Selbst Beier betont im vorliegenden Artikel, dass die Ursache zur Pädophilie in einem „Zusammenspiel von biologischen und psychosozialen Faktoren“ zu suchen ist. Damit relativiert sich die Bedeutung des Internets bereits ganz erheblich. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung bin davon überzeugt, dass sexuelle Präferenzstörungen immer einen engen Bezug zur Lebensgeschichte haben. Auch in der Sexualforschung ist man sich einig, dass der Grundstein zur Erwachsenensexualität bereits in der Kindheit gelegt wird. Die Art und Weise, wie wir als Kind Liebe, Zuwendung und Bindung erfahren, entscheidet darüber, in welcher Form wir diese Werte später weitergeben. Interessante Ausführungen dazu findet man z. B. im Fachaufsatz „Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie) – Diagnostik, Ätiologie, Epidemiologie, und präventive Aspekte“ von W. Berner und P Briken im Bundesgesundheitsblatt Nr. 50 vom Januar 2007. Gerade bei Missbrauchstätern deuten neuere Forschungen darauf hin, dass viele von ihnen selbst eine traumatische Kindheit hatten. In einem Fachbuch aus dem Jahr 2009 heißt es dazu:

So heterogen sie sich phänomenologisch auch darstellen mögen, deuten ihr Erleben, Fühlen und Handeln, ihre Lebensgeschichten und ihre Psychophatologie darauf hin, dass es sich bei Missbrauchstätern um in ihrer Kindheit schwer traumatisierte und bindungsgestörte Menschen handelt, die über ihre traumatischen Erfahrungen in der Regel weder gesprochen noch sie verarbeitet haben. Der sexuelle Missbrauch von Kindern stellt für sie einen Versuch zur Bewältigung ihrer (meist innerfamiliären) Traumatisierungen dar.“

(Saskia Heyden / Kerstin Jarosch: „Missbrauchstäter. Phänomenologie – Psychodynamik – Therapie“, Schattauer, Stuttgart 2009, S. 195)

Diese Worte beziehen sich zwar ausdrücklich auf Missbrauchstäter, aber für reine Präferenzstörungen gilt prinzipiell das Gleiche: Es gibt immer einen Bezug zur Lebensgeschichte. Im Laufe meiner Selbsthilfe-Tätigkeit habe ich viele andere Pädophile kennen gelernt, die selbst über eine ausgesprochen schwierige Kindheit berichten, über die sie niemals hinweggekommen sind, die sie gewissermaßen als unbewältigte Altlast mit sich herumtragen. Diese Beobachtung ist auch in der Fachwelt nicht neu. Bereits 1997 schrieb die Sexualtherapeutin Sophinette Becker:

Pädophile idealisieren auch die Kindheit an sich, nur nicht die eigenen, wozu sie auch meist wenig Anlass haben.“

(Quelle: Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung)

Auch der Journalist Manfred Karremann beschriebt Pädophile in einem Interview als „eher depressive Menschen, die einen Zugang zur eigenen Kindheit suchen.“ Aus den Erzählungen anderer Pädophiler weiß ich, dass viele von ihnen ‒ vor allem die auf Jungen orientierten ‒ ohne Vater aufgewachsen sind oder zumindest ein ganz schwieriges Verhältnis zu ihren Vätern hatten. Eine Beobachtung, die auch Manfred Karremann gemacht hat:

Bei vielen Päderasten fällt auf, dass der Vater überaus dominant war. Keiner der Männer, die ich befragte, berichtet von einer gesunden Vater-Sohn-Beziehung.“

(Manfred Karremann: „Es geschieht am hellichten Tag ‒ die verborgene Welt der Pädophilen und wie wir unsere Kinder vor Missbrauch schützen“, Köln 2007, S. 58)


Was soll verschwiegen werden?

Natürlich reicht das Erklärungsmuster „schwere Kindheit“ für sich alleine nicht aus, um die Entstehung sexueller Präferenzstörungen zu erklären. Es gibt aber eine Reihe an typische Auffälligkeiten in den Lebensgeschichten pädophiler Männer, die von unterschiedlichen Beobachtern ‒ Fachleuten und Laien ‒ immer wieder bestätigt werden. Ich frage mich, warum diese biographischen Auffälligkeiten von Beier und seinen Charité-Kollegen so systematisch ignoriert werden. Wenn so viele Menschen unabhängig voneinander zu ähnlichen Beobachtungen kommen, dann sollte man diesen Beobachtungen nachgehen ‒ und nicht alles pauschal aufs Internet schieben. Man kann an der Welt des Internets vieles kritisieren, aber als Ursache für sexuelle Präferenzstörungen kann es mit Sicherheit nicht verantwortlich gemacht werden. Die wirklich Antworten liegen viel tiefer. Sie sind nicht immer leicht zu finden, aber die Heyden und Jarosch stellen immerhin die richtigen Fragen:

Was wäre, wenn die Straftat durch die Lebensgeschichte des Täters nachvollziehbar wäre und sich als unbewusster und missglückter Versuch der Verarbeitung eines selbst erfahrenen Traumas verstehen ließe? Bei eingehender Betrachtung ließe sich erkennen, dass sich die Kindheitsgeschichten der Täter und der Opfer ähneln. Würde man damit nicht eingestehen, dass die Tat auch deshalb geschehen konnte, weil der der Täter von heute möglicherweise gestern das Opfer war?

(Saskia Heyden / Kerstin Jarosch: „Missbrauchstäter. Phänomenologie – Psychodynamik – Therapie“, Schattauer, Stuttgart 2009, S. 2)

Aus diesen Zeilen spricht massive Gesellschaftskritik. Eine Kritik, die nicht immer erwünscht und nicht leicht zu ertragen ist, denn dazu müssten wir uns fragen, wie es um den Stellenwert von Kindern in dieser Gesellschaft ganz grundsätzlich bestellt ist. Liegt hier vielleicht der Grund, weshalb Prof. Beier sich immer so bedeckt hält, wenn es um die Ursachen von Pädophilie und anderen Präferenzstörungen geht? Dass ein renommierter Sexualforscher die Eindrücke und Beobachtungen seiner Fachkollegen nicht kennt, ist mehr als unwahrscheinlich. Ich vermute einen anderen Grund: Würde Prof. Beier zugeben, dass viele Pädophile als Kind ein gestörtes Verhältnis zu ihren Eltern hatten, dass ihre emotionalen Grundbedürfnisse nach Liebe und Geborgenheit nicht erfüllt wurden, dass viele von ihnen sogar misshandelt wurden, dann stünde plötzlich die ganze Gesellschaft in der Kritik. Grundlegende Vorstellungen zur Erziehung, zur Familien- und Sozialpolitik müssten hinterfragt werden. Dann stünde die Pädophilie plötzlich nicht mehr als reine Präferenzstörung dar, sondern sie bekäme eine gesellschaftspolitische Dimension. Ist eine solche Diskussion möglicherweise nicht erwünscht?

Das würde erklären, warum man sich an der Charité ausschließlich auf verhaltenstherapeutische und medikamentöse Ansätze konzentriert, während man zur Ursachenforschung so gut wie keine Angaben macht. Fragt man Prof. Beier und sein Team, wodurch eine pädophile Ausrichtung entsteht, dann erhält man praktisch immer die gleiche Antwort: Es handele sich um ein „Zusammenspiel aus biologischen, psychologischen und psychosozialen Faktoren“, deren genaues Zusammenwirken noch unbekannt sei. Eine typische Gummiband-Antwort, die jede Diskussion von vornherein erstickt. Da ist es einfacher, wenn an einen klaren Sündenbock hat, den man für alles verantwortlich machen kann. Auch das Internet kann in die Rolle eines solchen Sündenbocks gedrängt werden, der von den wahren Problemen nur ablenkt. Beiers Verdienste um die Pädophilie-Prävention sind unbestritten und sollen auch nicht geschmälert werden, aber diesmal hat er sich in eine Richtung verrannt, mit der er sich und seiner Sache keinen Gefallen tut. Zuerst die missverständliche Aussage über pädophile Priester, dann die populistischen Thesen übers Internet: Professor Beier hat bessere Interviews gegeben, dieses hier war bestimmt nicht sein stärkstes.

aktualisiert: 12.11.2011