Montag, 22.10.2018

Was für Folgen hat sexueller Missbrauch?

von Marco

 

Die möglichen Folgen eines sexuellen Missbrauchs sind höchst unterschiedlich und hängen immer vom Einzelfall ab. Eine typische Symptomatik gibt es nicht, dafür aber eine große Spannweite an möglichen Folgen. Deshalb stellt sexueller Missbrauch für sich genommen kein einheitliches Krankheitsbild dar und indiziert auch nicht zwingend ein therapeutisches Handeln.1) Deegener2) betont, dass sexueller Missbrauch häufig im Zusammenhang mit anderen Misshandlungsformen (körperliche und seelische Gewalt, Vernachlässigung) auftritt. In solchen Fällen sind die Folgen nur im Zusammenhang erkennbar und einer isolierten Betrachtung nicht zugänglich. Ob ein sexueller Übergriff zu einer bleibenden Traumatisierung führt, hängt von vielen Faktoren ab.3) 4) Die Wichtigsten sind:


1.) Die Art des Missbrauchs

Hier geht darum, ob z. B. körperliche Gewalt angewendet wurde oder ob es zu sexueller Penetration kam. Einige Sexualforscher vertreten die Ansicht, je „erwachsener“ die Sexualpraktik (z. B. Oral-, Vaginal- und Analverkehr), desto höher sei das zu das Schädigungsrisiko.3) Andere Therapeuten, die mit Missbrauchsopfern arbeiten, wehren sich gegen diese Pauschalisierung und weisen darauf hin, dass auch die vermeintlich harmloseren Sexualpraktiken (z. B. Exhibitionismus) sehr beängstigend auf Kinder wirken können.2)


2.) Die Dauer der Übergriffe

Hier ist die entscheidende Frage, ob es sich um ein einmaliges Ereignis handelt oder um eine ganze Reihe sich wiederholender Taten, die sich möglicherweise über viele Jahre hinziehen.Grundsätzlich gilt: Je häufiger und regelmäßiger die sexuellen Übergriffe, desto höher die traumatische Wirkung auf das Kind. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass nicht auch ein einzelner, isoliert vorkommender Übergriff sehr beängstigend und traumatisierend sein kann.


3.) Das Alter des Kindes

Zu diesem Punkt gibt es unterschiedliche Ansichten. Die allgemeine Auffassung ist: Je jünger das Kind ‒ und je größer der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer ‒ desto schwerwiegender sind die zu erwartenden Folgen. Einige Fachleute widersprechen dieser These und sehen die beginnende Pubertät als die kritische Phase, in der ein Kind besonders labil und verletzlich ist. Hier läge demnach auch das größte Traumatisierungsrisiko. Eine direkte Korrelation zwischen Alter und Traumatisierung gilt derzeit noch als unbewiesen.4)


4.) Die Beziehungskonstellation zwischen Täter und Opfer

Handelte es sich um einen Fremdtäter oder um eine Vertrauensperson aus dem Nahbereich des Kindes? Oder sogar um einen Familienangehörigen? Je enger die persönliche Bindung zwischen Kind und Täter ‒ und je schwerer der damit einhergehende Vertrauensmissbrauch ‒ desto größter ist die zu erwartende Schädigung. Dieser Zusammenhang gilt in der Fachwelt als unstrittig. Besonders sexuelle Übergriff in der eigenen Familie (z. B. durch Mütter oder Väter) stürzen das Kind in schwere Loyalitätskonflikte, die es nicht verarbeiten und bewältigen kann.


5.) Therapeutische Hilfe

Durch frühzeitige therapeutische Hilfe kann dem Kind geholfen werden, die Tat zeitnah zu verarbeiten, was die Gefahr langfristiger Folgen ebenfalls reduziert. Dies gilt in der Fachwelt als gesichert. Bis zu Welchem Grad ein Kind tatsächlich von einer Therapie profitiert, hängt allerdings ganz vom Einzelfall ab.5)


6.) Die Reaktion der Eltern

Die Art und Weise, wie die Eltern (und andere wichtiger Bezugspersonen) auf einen sexuellen Missbrauch reagieren, hat ebenfalls entscheidende Einfluss darauf, wie das Kind einen sexuellen Missbrauch verarbeitet. Viele Therapeuten empfehlen deshalb nicht nur eine Behandlung des Kindes, sondern auch eine professionelle Beratung der Eltern.5)


7.) Persönlichkeit und soziales Umfeld

Jedes Kind ist anders und geht auch anders mit belastenden Erfahrungen um. Es gibt Kinder, die verarbeiten traumatische Ereignisse ohne dauerhafte Folgeschäden, andere entwickeln schwerste Symptome, unter denen sie ihr Leben lang leiden. Aus das soziale Umfeld spielt eine Rolle, denn auch hier gibt es stabilisierende und destabilisierende Faktoren. Bange4) vermutet bestimmte „Schutzfaktoren“, die einer dauerhaften Traumatisierung entgegenwirken oder sie zumindest abmildern können. Dazu zählt er zuallererst ‒ wie schon genannt ‒ eine gute und liebevolle Beziehung zu den Eltern, aber auch zu den Geschwistern. Auch andere Erwachsene (z. B. Großeltern oder Lehrer) können missbrauchten Kindern eine wichtige Stütze sein. Als weitere Schutzfaktoren gelten alle Aktivitäten, die das Selbstwertgefühl des Kindes erhöhen, z. B. Sport, Hobbys oder die Beschäftigung mit Haustieren, so banal sich diese Beispiele auch anhören. Später im Erwachsenenalter gelten Intelligenz, kognitive Fähigkeiten, Auseinandersetzungsfähigkeit und Kontaktfreudigkeit als schützende Faktoren, die für eine bewussten Aufarbeitung hilfreich sind.4)


Die Symptome

Die meisten Kinder, die sexuell missbraucht werden, fühlen sich den Übergriffen vollkommen hilflos ausgeliefert. Auch wenn der Täter keine unmittelbare körperliche Gewalt anwendet, so nutzt er dennoch ein Überlegenheits- bzw. ein Abhängigkeitsverhältnis aus, dem sich das Kind nicht entziehen kann. Missbrauchte Kinder erleben tiefe Gefühle von Angst, Ohnmacht, Wehrlosigkeit, aber auch Wut und Verlassenheit („Warum hilft mir keiner?“). Missbrauchte Kinder werden systematisch erniedrigt, sie werden in ihrer Würde verletzt, in ihrer körperlichen und psychischen Integrität. Ihren Schmerz und ihre Ohnmacht können sie oftmals nicht äußern. Sie haben nur selten jemanden, dem sie sich anvertrauen können, der ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Missbrauchte Kinder müssen Ihren Schmerz verdrängen, geheim halten und in sich hineinfressen ‒ anders können sie oft gar nicht überleben. Sexueller Missbrauch kann zu einer ganzen Reihe an massiven psychischen Problemen führen. Die häufigsten Symptome sind:

‒ Angststörungen und Depressionen

‒ Unruhe- und Nervositätszustände

‒ Wutausbrüche und Aggressivität

‒ Alpträume und Schlafstörungen 

‒ Angst vor körperlicher Nähe und Intimität

‒ Kontakt- und Beziehungstörungen, Vereinsamung und soziale Isolation

‒ Essstörungen, psychosomatische Beschwerden, Suchtverhalten

‒ Sprachstörungen

‒ Einnessen oder Einkoten

‒ neurotische Symptome, z. B. Zwangsstörungen

‒ Konzentrationsstörungen, schulische Probleme und Leistungsversagen

‒ Selbstmordgedanken und -versuche


Darüber hinaus gibt es eine Reihe an typischen Spätfolgen, die sich unter Umständen erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Tat bemerkbar machen. Sexuell missbrauchte Kinder haben noch im Erwachsenenalter ein deutlich erhöhtes Risiko, an psychischen Folgeschäden zu erkranken.1) 2) Das geht bis hin zu schweren psychiatrischen Krankheitsbildern wie:

‒ Persönlichkeitsstörungen

‒ posttraumatischen Belastungsstörungen

‒ Selbstzweifel, Selbstwertprobleme

‒ Essstörungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit

‒ psychosexuelle Probleme und sexuelle Funktionsstörungen

‒ belastende Erinnerungen („Flashbacks“)

‒ selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Selbstmordgedanken

Andere Auswirkungen, die man lange Zeit vermutet hatte, gelten heute als widerlegt. So glaubte man früher, sexuell missbrauchte („verführte“) Jungen würden später selbst homosexuell werden. Die heutigen Fachleute widersprechen dieser Verführungsthese. Die Sexualtherapeutin Sophinette Becker beobachtete in ihrer langjähriger Praxiserfahrung, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit eine spätere homosexuelle Entwicklung eher erschwert als begünstigt.6) Auch der Therapeut Dirk Bange, der mit sexuell missbrauchten Männern arbeitet, kommt zu dem Schluss, dass sexuell missbrauchte Jungen sich mit einer homosexuelle Identität schwer tun. Die Gründe sind nachvollziehbar: Aus Scham und Ekel über den früheren Missbrauch (durch einen Mann) können sie sexuellen Kontakten mit Männern nichts Positives mehr abgewinnen.4) An diesen Aussagen sieht man aber, dass sexuell missbrauchte Kinder tief greifende Verunsicherungen in ihrer sexuellen Identität erfahren.

Auch die oft gehörte These, sexuell missbrauchte Jungen würden später selbst zu Tätern, lässt Bange in dieser Verallgemeinerung nicht gelten. Dies träfe nur auf einen kleinen Bruchteil der männlichen Opfer zu. Im Gegenteil: Es sei eine zusätzlich Erniedrigung für einen missbrauchte Jungen, wenn man ihn zusätzlich zu seinem Leid auch noch als zukünftigen Täter sieht. Solche Stigmatisierungen seien mit der Würde der missbrauchten Kinder nicht vereinbar.4)

Bei dieser kurzen Zusammenstellung konnte ich vieles nur oberflächlich anreißen. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass sexueller Kindesmissbrauch ein schwer wiegendes und leider auch alltägliches gesellschaftlichen Problem, ist, das sich in seinen ganzen Ausmaßen ‒ und seinem Leid! ‒ wohl nur erahnen lässt. Sexueller Missbrauch ist aber auch ein höchst uneinheitliches Phänomen. Er tritt in unzähligen Erscheinungsformen und Schweregraden auf. Auch die Folgen für die missbrauchten Kinder sind unterschiedlich und lassen sich nicht pauschalisieren. Noch etwas gilt es zu bedenken: Die vorgestellten Fakten (insbesondere zu den Folgen) lesen sich nüchtern und trocken, in der Realität verbergen sich dahinter aber schwere menschliche Schicksale. Das darf man niemals aus den Augen verlieren!


Literatur:

1) Fegert J. M. (2007) „Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“, Bundesgesundheitsblatt Vol. 50, Nr.1

2) Deegener G. (2005) „Kindesmissbrauch. Erkennen, helfen, vorbeugen“, 4. Auflage, Weinheim u. Basel 2009

3) Schmidt G: „Über die Tragik pädophiler Männer“, Zeitschrift für Sexualforschung Nr.2/99

4) Bange D. (2007): „Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens“, Göttingen 2007

5) Hartwig L., Hensen G. (2008): „Sexueller Missbrauch und Jugendhilfe: Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischen Handelns im Kinderschutz“, Weinheim 2008

6) Becker S.: „Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung“, Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Nr. 38, 1/97

aktualisiert: 11.12.2011