Montag, 22.10.2018

Virtuelle Welten – Risiko oder Chance?


Die virtuelle Kinderpornographie ist ein noch vergleichsweise junges Phänomen. Die technischen Möglichkeiten zur Herstellung virtueller Bilder entwickeln sich ständig weiter, und zwar in einem Tempo, wie es vor wenigen Jahren noch kaum vorstellbar war. Bis jetzt ist es nur mit großem technischem Aufwand möglich, computertechnisch erzeugte Bilder halbwegs realistisch darzustellen, aber die Realitätsnähe solcher Bilder steigt von Jahr zu Jahr. In einigen Jahren wird es wahrscheinlich nur noch für Experten möglich sein, im Computer erschaffene Bilder von echten Aufnahmen zu unterscheiden. Deshalb ist es bestimmt nicht zu hoch gegriffen, wenn ich voraussage, dass sowohl die Herstellung als auch der Absatzmarkt für virtuelle Kinderpornographie in den nächsten Jahren sprunghaft ansteigen werden.

In jüngster Zeit gab es einen ersten Vorgeschmack auf das, was uns alles noch bevorsteht. Im Mai 2007 stießen Reporter des ARD-Magazins „Report Mainz“ im „Second Life“ erstmals auf virtuelle Kinderpornographie ungeahnten Ausmaßes.1) „Second Life“ ist ein Sammelbegriff für künstlich erzeugte Computerspielwelten, in denen der Benutzer zahllose Abenteuer aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen nachempfinden kann. Solche virtuell erzeugten Computerwelten haben sich in den letzten Jahren zunehmend im Internet etabliert und werden immer beliebter – unter allen Bevölkerungsschichten. Die technischen Möglichkeiten erlauben ein immer realistischer werdendes Abbild der Wirklichkeit, die Spielfiguren bekommen ein immer echter und natürlicher wirkendes Aussehen. Doch leider werden diese Raffinessen der Informationstechnologie nicht nur für harmlose Spielereien benutzt. Auch die Pornoindustrie hat diesen noch sehr jungen Markt längst für sich entdeckt: Pornoszenen, die der Betrachter nicht nur passiv konsumieren, sondern in die er aktiv mit eingreifen kann. Der Zuschauer wird zum Bestandteil, zum Protagonisten des Geschehens – eine faszinierende und zugleich erschreckende Option, wie es sie noch nie zuvor gab.

In diesen virtuellen Welten fanden die geschockten ARD-Reporter auch sorgfältig ausgearbeitete Spielszenen, in denen der Benutzer virtuelle Kinder missbrauchen konnte. Dabei ging es nicht nur um einvernehmlichen „Kuschelsex“. Angeboten wurde so ziemlich die ganze Bandbreite an pädophilen und sadistischen Vorlieben, bis hin zur Vergewaltigung kleiner Mädchen. Wie viele Benutzer sich auf dieses und andere Angebote eingelassen haben, darüber kann man nur spekulieren. Ebenfalls nur spekulieren kann man darüber, wie diese Leute im wirklichen Leben mit Kindern umgehen – ein Gedanke, den man angesichts der Brutalität vieler Szenen kaum zu Ende denken mag. Die ARD-Reporter übergaben ihre Recherchen der Staatsanwaltschaft, denn jegliche Form von Kinderpornographie ist nach § 184b StGB strafbar. Dabei ist es egal, ob es sich um reale Szenen handelt oder um die Wiedergabe eines so genannten „wirklichkeitsnahen Geschehens“, wozu auch vom Computer erzeugte Animationen gehören, sogar Handzeichnungen oder Textwerke, die ein entsprechendes Geschehen schildern und positiv ausschmücken.

Nach der Aufdeckung dieses Falls gab es in den Medien – vor allem in der Computerszene – viele kontroverse Diskussionen über Vorteile und Risiken solcher virtueller Kindersex-Szenen. Viele wichtige Fragen wurden aufgeworfen: Heizen derartige Animationen die pädophile Lust erst Recht an? Senken sie sogar die Hemmschwelle, sich auch im wirklichen Leben an Kindern zu vergehen? Oder können sie sogar einen Beitrag zum Kinderschutz darstellen, indem der Pädophile seinen Trieb abreagieren kann, ohne sich jemals real an einem Kind zu vergehen? Es ist zwar alles nur virtuell, aber trotzdem: Wo ist die Grenze des Vertretbaren? Wo beginnen Fantasie und Realität miteinander zu verschwimmen? 
 

Das Problem der Gewaltverherrlichung

Der Normalbürger reagiert mit Entsetzen und Abscheu, aber die rechtliche Gleichbehandlung von virtueller und realer Kinderpornographie war nie ganz unumstritten. Nicht nur für Pädophile als potentielle Interessenten, sondern auch für Strafrechtsexperten geht es dabei um die provokante Frage, ob virtuelle Kinderpornographie als gleichermaßen verwerflich anzusehen ist wie Bilder, die ein reales Geschehen darstellen. Selbst unter den Gegnern der echten Kinderpornographie gibt es Stimmen, die sich für eine Freigabe virtueller Kinderpornographie aussprechen. Das Hauptargument zielt ausgerechnet in Richtung Kinderschutz: Mit einer Legalisierung virtueller Kinderpornographie könnte man die Herstellung realer Kinderpornographie eindämmen und damit die Zahl der tatsächlich missbrauchten Kinder verringern. Es wäre eine pragmatische Entscheidung zum Schutz der Kinder, denn gegenüber dem Missbrauch realer Kinder wäre die virtuelle Kinderpornographie das kleinere Übel. Sie sei für Pädophile eine Art „Ersatzdroge“ mit weit weniger sozialschädlichen Folgen wie die reale Kinderpornographie; vergleichbar mit Substitutionsprogrammen für Drogensüchtige, mit denen man schließlich auch gute Erfolge erzielt habe.

Neben dem Argument des Kinderschutzes wird auf das rechtsstaatliche Prinzip der Freiheit verwiesen. Dieses Prinzip gebiete es, dass jeder tun und lassen dürfe, was er wolle, solange er damit keinen Anderen gefährdet oder in seinen Rechten verletzt. Bei der virtuellen Kinderpornographie kämen keine realen Kinder zu Schaden, da es sich um eine bloße Fiktion handelt, die allenfalls die Qualität einer laut geäußerten Fantasie habe. Folglich gäbe es auch keinen Grund, hier strafrechtliche Beschränkungen aufzuerlegen, denn das Strafrecht dürfe immer nur die Ultima Ratio bleiben, um unmittelbare Bedrohungen für den Rechtsfrieden abzuwenden. Das Strafrecht sei hingegen nicht dazu da, individuelle persönliche Vorlieben zu sanktionieren, nur weil sie von der Norm abweichen und für Andere nicht nachvollziehbar sind, vielleicht sogar Ekel und Entsetzen hervorrufen. Solange niemand zu Schaden käme, seien aber auch fragwürdige Lebensentwürfe durch die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Person geschützt. Wer dies in Frage stelle, der stelle die Grundwerte von Demokratie und Pluralismus in Frage.

Die Gegner der virtuellen Kinderpornographie argumentieren, dass hier sexuelle Gewalt an Kindern verherrlicht werde. Ein Umstand, der sehr wohl den Rechtsfrieden verletze und deshalb auch nicht mehr grundgesetzlich geschützt sei. Eine Darstellung, in der ein Kind voller Freude den Sex mit einem Erwachsenen genießt, sei eine solche Verherrlichung von sexueller Gewalt und verstoße damit gegen die Würde der Kinder, die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützt sei. In virtuellen Welten sei alles möglich: Dort gäbe es auch Kinder, für die wäre Sex mit Erwachsenen das größte Vergnügen überhaupt. Man könne die Dinge nach Belieben beschönigen, Sex zwischen Kindern und Erwachsenen würde als etwas ausgesprochen Schönes erscheinen. Eine solche Verklärung der Wirklichkeit wäre extrem bedenklich, denn es gäbe genügend Pädophile, die durch solche extrem wirklichkeitsfremden Szenen derart angeheizt würden, dass sie irgendwann nicht mehr zwischen virtueller und realer Welt unterscheiden könnten. Diese Gefahr sei umso größer, da viele Pädophile ihre Ausrichtung ohnehin idealisieren würden. Diese ganz konkrete und keinesfalls zu unterschätzende Gefahr rechtfertige ein Verbot auch der virtuellen Kinderpornographie.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an die Debatte um Gewalt verherrlichende Computerspiele, wie sie im Jahr 2002 nach dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium entbrannt ist. Ein 19-jähriger ehemaliger Schüler erschoss in einem wutentbrannten Amoklauf 16 Menschen und tötete anschließend sich selbst. Der Täter galt als längjähriger Konsument extrem Gewalt verherrlichender Computerspiele, was auch den Anlass gab, über die Risiken und Gefahren solcher Spiele nachzudenken. Es gab damals die unterschiedlichsten Standpunkte: Die einen forderten ein rigoroses Verbot solcher Spiele oder zumindest eine drastische Heraufsetzung der Altersfreigaben. Andere verwiesen darauf, dass der Zusammenhang zwischen Computerspielen und realen Gewalttaten äußerst fraglich sei. Ob jemand auch im wirklichen Leben zur Gewalt neige, sei eine Charakter- und Erziehungsfrage; der Konsum von Computerspielen könne lediglich Tendenzen zu Tage fördern, die ohnehin schon da waren.

Ob Gewalt in Computerspielen oder virtuelle Kinderpornographie – es geht in beiden Fällen um die gleiche Frage: Darf man in virtuellen Welten Handlungen beschönigen, die im realen Leben unter Strafe stehen und völlig zu Recht verboten sind? Der Amoklauf von Erfurt war ein extremes Beispiel, aber im Hinblick auf brutale Computerspiele ist man sich heutzutage weitgehend einig: Solche Spiele mit ihren teils offen Gewalt verherrlichenden Botschaften haben mitunter gravierende Auswirkungen auf die Menschen, die diese Spiele oft vollkommen unreflektiert konsumieren. Der Konsum dieser Spiele kann die Hemmschwelle senken, auch im wirklichen Leben Gewalt anzuwenden. Das gilt besonders für labile und ungefestigte Persönlichkeiten, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, über eine geringe Frustrationstoleranz verfügen und schlecht mit Konflikten umgehen können.

Ich bin sicher, in Bezug auf pornographische Darstellungen ist es prinzipiell ähnlich: Es besteht immer ein „Nachahmungsrisiko“. Das mag bei gewöhnlicher Erwachsenen-Pornographie nicht weiter schlimm sein, denn Sex unter Erwachsenen kann prinzipiell in allen denkbaren Varianten ausgelebt werden, solange beide Partner damit einverstanden sind. Gewisse Nachahmungseffekte und der Impuls, das Gesehene auch einmal selbst auszuprobieren, wären hier nicht weiter schlimm, unter Umständen sind sie sogar erwünscht. Bei allen Arten von Kinderpornographie wird jedoch ein Geschehen dargestellt, das grundsätzlich niemals ausgelebt werden darf. Nachahmungseffekte jeder Art wären hier fatal, weshalb Kinderpornographie – egal ob real oder virtuell –immer anders zu beurteilen ist als andere Arten von Pornographie.

Der Fall aus dem „Second Life“ schlug derart hohe Wellen, dass sich selbst Prof. Beier von der Charité in die Diskussion einschaltete. Kurz nach Aufdeckung des Falls äußerte er sich in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAZ), wo er eindringlich vor den zu erwartenden Folgen der virtuellen Kinderpornographie warnte.2) Beiers Forschungsergebnisse lassen wenig Interpretationsspielraum: Alle vorliegenden Erhebungen würden darauf hindeuten, dass der Konsum von Kinderpornographie die Hemmschwelle für einen tatsächlichen Missbrauch signifikant herabsetze. Dabei sei es egal, ob es sich um reales oder virtuelles Bildmaterial handele.

Es ist richtig, dass durch die Herstellung, den Vertrieb und den Besitz virtueller Kinderpornographie keine echten Kinder zu Schaden kommen. Aus diesem Grund ist die virtuelle Kinderpornographie ethisch nicht im gleichen Maße verwerflich wie die reale. Diese Unterscheidung ist wichtig und sollte auch bei der strafrechtlichen Einordnung gewürdigt werden, indem Delikte im Zusammenhang mit virtueller Kinderpornographie nicht in gleichem Maße bestraft werden, als ginge es um Bilder, die den realen Missbrauch eines Kindes dokumentieren. Wer gefestigt genug ist, zwischen Fantasie und Realität strikt zu unterscheiden, muss auch nicht zwangsläufig negativ beeinflusst werden, wenn er sich hin und wieder virtuelle Szenen ansieht, in denen ein Kind Spaß am Sex hat. 
 

Im Zweifel zu Gunsten des Kinderschutzes

Dies kann aber noch kein Grund sein, die virtuelle Kinderpornographie zu befürworten, denn auf der anderen Seite besteht immer noch die höchst reale Gefahr, dass die Hemmschwelle für einen tatsächlichen Übergriff auf Dauer herab gesenkt wird. Meine Wahrnehmung wird verändert, Hemmschwellen werden herabgesetzt, meine Fähigkeit zur Opferempathie wird möglicherweise vermindert – in ganz kleinen Schritten, ohne dass es mir zunächst bewusst wird. Dazu kommt noch, dass auch die virtuelle Kinderpornographie – genau wie die reale – ein Suchtpotential besitzt, das man nicht unterschätzen darf. Gefährdet sind vor allem labile und ungefestigte Persönlichkeiten, die kein hinreichendes Problembewusstsein besitzen. Bei ihnen besteht am ehesten die Gefahr, dass sie das Gesehene irgendwann auf die Wirklichkeit übertragen. Der endgültige wissenschaftliche Beweis für diese These mag zwar noch ausstehen, aber die bisherigen Forschungen – insbesondere von Prof. Beier – zeigen eine eindeutige Tendenz auf, die man sehr ernst nehmen muss. Demgegenüber scheint mir das Argument, man könne mit einer Freigabe virtueller Kinderpornographie den Markt für die reale Kinderpornographie eines Tages austrocknen und damit einen Beitrag zum Kinderschutz leisten, doch eher spekulativer Natur zu sein. Im Gegenteil: Es wird immer Konsumenten geben, die ihren besonderen Kick aus dem Bewusstsein beziehen, eine real abgedrehte Szene vor sich zu haben. Der Markt für die reale Kinderpornograhie würde also mitnichten versiegen, sondern für viele Pädophile auch weiterhin das „Sahnehäubchen“ darstellen.

Es gibt allerdings auch Strafrechtsexperten, die in der möglichen Herabsetzung von Hemmschwellen und sogar im Schwinden von Opferempathien allein noch keinen Strafbarkeitsgrund sehen. Sie argumentieren – wie die Befürworter der virtuellen Kinderpronographie – im Sinne des rechtsstaatlichen Freiheitsprinzips. Das Strafrecht sei eine Ultima Ratio, die man nicht überstrapazieren dürfe. Solange ein Zusammenhang von virtueller Kinderpornographie mit real begangenen Missbrauchsfällen nicht eindeutig nachzuweisen sei, gäbe es keinen Grund, sie zu verbieten. Auch der Strafverteidiger Philipp Thiee aus Frankfurt/Main argumentiert in diese Richtung. In einer Stellungnahme für den Deutschen Bundestag kam er zu dem Ergebnis, das Schwinden von Mitleid oder das Anregen pädosexueller Phantasien möge zwar abscheulich sein, könne aber für sich genommen noch keinen Strafgrund darstellen.3) Eine Aussage eines anerkannten Strafrechtsexperten, die den Befürworten virtueller Kinderpornographie bestimmt wieder Auftrieb geben wird.

Eine Legalisierung wäre meines Erachtens aber höchstens dann zu vertreten, wenn sie gleichzeitig mit einer massiven Aufklärungskampagne einherginge, um das Problembewusstsein der Pädophilen zu schärfen und sie in die Lage zu versetzen, unter allen Umständen klar zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Das erscheint mir allerdings mehr als utopisch, weshalb ich nach Abwägung aller Argumente dazu tendiere, den Besitz virtueller Kinderpornographie auch weiterhin unter Strafe zu belassen. Die Kinder kommen zwar nicht konkret zu Schaden, aber mittelbar in Form eines systematisch sich erhöhenden Risikos, dass jemand seine Fantasien später vielleicht auch in der Realität ausleben wird. Dieses unterschwellige, schwer zu kalkulierende Risiko dürfte als Begründung genügen, virtuelle Kinderpornographie auch in Zukunft unter Strafandrohung zu belassen. Solange ein Zusammenhang von virtueller Kinderpornographie und real begangenen Übergriffen nicht hinreichend widerlegt worden ist, sollte im Zweifel zu Gunsten des Kinderschutzes entschieden werden. Eine gewisse strafrechtliche Differenzierung sollte aber stattfinden, denn die reale Kinderpornographie bleibt im Vergleich zur virtuellen das größere Übel.
 

Quellen:

1) Südwestrundfunk, 08.07.2007

2) FAZ: Interview mit Prof. Dr. Klaus M. Beier, 13.05.2007

3) Philipp Thiee: „Stellungnahme die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses am 18.06.2007 zum Gesetzentwurf §§ 184b StGB BT-Drs.: 16/3439“, Frankfurt/ Main 2007, S. 6

aktualisiert: 11.12.2011