Montag, 22.10.2018

Sind alle Missbrauchstäter pädophil?

 

In der Öffentlichkeit werden Pädophilie und sexueller Kindesmissbrauch oftmals völlig gedankenlos miteinander gleichgesetzt. Dabei ist es längst erwiesen, dass nicht jeder Erwachsene, der sexuellen Kontakt mit Kindern hat, automatisch auch pädophil ist. Im Gegenteil: Nur eine Minderheit aller Missbrauchstäter ist wirklich pädophil im Sinne der sexualmedizinischen Definition (vergl. Was ist Pädophilie?). Sexueller Missbrauch an Kindern ist ein höchst komplexes Phänomen, das von ganz unterschiedlichen Tätergruppen begangen wird, die alle ihre ganz eigenen Beweggründe haben.

Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen drei Hauptgruppen von Missbrauchstätern: Den Kernpädophilen, den Regresssiven und den antisozialen Gewalttäter. Die Unterscheidung zwischen pädophilen und regressiven Tätern geht auf den amerikanischen Psychiater Nicolas Groth zurück, der sie erstmals 1982 in einem Fachartikel erwähnte.1) Die heutige Dreiteilung soll erstmals 1985 bei Eberhard Schorsch aufgetaucht sein.2) Sie gilt inzwischen als allgemein anerkannt, auch wenn sie nur ein stark vereinfachtes Schema darstellt.

 

1.) Der Kernpädophile

Sein sexuelles Interesse seit der Pubertät überwiegend oder ausschließlich auf Kinder gerichtet. Dies ist sozusagen der Pädophilen im eigentlichen Sinn. Körperliche Gewalt oder offene Drohungen wendet er in den seltensten Fällen an, charakteristisch ist dagegen die subtile psychische Manipulation (vergl. Einvernehmliche Sexualität). Der Kernpädophile sehnt sich nach der „großen Liebe“ zum Kind und träumt von der „einvernehmlichen Sexualität“, die für das Kind angeblich genauso beglückend ist wie für den Erwachsenen. Dass er dabei lediglich einer kognitiven Verzerrung aufgesessen ist, merkt er in aller Regel nicht. Er sieht nur das, was er sehen will und interpretiert alltägliche Verhaltensweisen des Kindes (z. B. anhängliches Kuscheln) so um, als hätten sie eine angeblich sexuelle Bedeutung, die er dann als Aufforderung zum Sex versteht. Subjektiv ist der Kernpädophile oftmals fest davon überzeugt, das Kind zu lieben und nur das Beste für das Kind zu wollen. Die Wahrheit sieht aber in aller Regel so aus, dass der Täter sich zumeist über längere Zeit in das Vertrauen des Kindes einschleicht und eine emotionale Abhängigkeitsbeziehung herstellt, der das Kind sich aus eigener Kraft nicht mehr entziehen kann. Im Ergebnis lässt es dann auch Dinge über sich ergehen, die ein Kind normalerweise nicht freiwillig mitmachen würde. Dazu gehören auch sexuelle Handlungen, die vom Täter langsam und schleichend in ganz kleinen Schritten ins Spiel gebracht werden. Das Gefühl, ausgenutzt und missbraucht worden zu sein, entsteht bei den betroffenen Kindern oft erst sehr viel später, wenn ihnen bewusst wird, dass sie mit Dingen konfrontiert worden sind, die sie noch gar nicht verstehen und abschätzen konnten.

Obwohl sie ausschließlich auf Kinder fixiert sind, machen die Kernpädophilen dennoch den prozentual kleinsten Teil aller Missbrauchstäter aus. Zum Anteil pädophiler Täter am sexuellen Missbrauch von Kindern gibt es allerdings sehr unterschiedliche Zahlen, die zum Teil stark voneinander abweichen. Nach übereinstimmenden Schätzungen geht man aber davon aus, dass sich bei maximal etwa 25% aller Täter überhaupt eine pädophile Ausrichtung diagnostizieren lässt. Die übrigen Täter seien in ihrer Sexualität primär auf Erwachsene ausgerichtet.3) Es sei daher unzulässig, als motivationalen Hintergrund für sexuellen Kindesmissbrauch automatisch Pädophilie zu unterstellen.4) Diese Statistiken mögen viele überraschen oder sogar als „pädophile Propaganda“ missverstanden werden, aber es gilt heute tatsächlich als gesichert, dass der mit Abstand größte Teil der an Kindern begangenen sexuellen Übergriffe eben nicht von Pädophilen verübt wird, sondern von anderen Täterkategorien, die ich nachfolgend noch beschreiben werde.

Kernpädophile, die einmal ein Kind missbraucht haben, unterliegen allerdings einer hohen Rückfallgefahr. Prof. Beier (Charité Berlin) ermittelte eine Rückfalligkeit von 50% für die nicht-ausschließlich Pädophilen, bei den auschließlich Pädophilen sind es sogar 80%.5) Auf der anderen Seite lassen sich gerade die Kernpädophilen durch spezielle Präventionsprogramme noch vergleichsweise gut erreichen. Solche Projekte, wie sie z. B. von der Charité angeboten werden, bieten eine gute Chance, potentielle Täter anzusprechen und mögliche Straftaten bereits im Vorfeld zu verhindern.



2.) Der Regressive

Der weitaus größte Teil aller sexuellen Übergriffe an Kindern wird nicht von Kernpädophilen begangen, sondern von regressiven Tätern, auch bekannt als „heterosexuelle Ersatzobjekttäter“. Dies sind Männer, die in ihrer Sexualität eigentlich auf Erwachsene ausgerichtet sind, zumeist auf Frauen. Trotzdem sind diese Männer nicht in der Lage, mit anderen Erwachsenen eine zufrieden stellende sexuelle Beziehung einzugehen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die einen haben ein schwaches Selbstwertgefühl und fühlen sich Gleichaltrigen nicht gewachsen, andere haben erhebliche Beziehungsprobleme oder andere frustrierende Erfahrungen hinter sich und trauen sich deshalb nicht an erwachsene Partner heran. Um ihre sexuellen Bedürfnisse irgendwie zu befriedigen, greifen diese Täter dann ersatzweise auf Kinder zurück, da diese wesentlich leichter zu erreichen sind; daher auch der Ausdruck „Ersatzobjekttäter“. Viele innerfamiliäre Missbrachsfälle (z. B. durch Stiefväter oder Verwandte) sind auf diesen Tätertyp zurückzuführen.

Da der regressive Täter nicht primär auf Kinder ausgerichtet ist, sondern sich im Grunde zu Erwachsenen hingezogen fühlt, kann er mit therapeutischer Hilfe durchaus lernen, wieder befriedigende Beziehungen mit altersgleichen Partnern einzugehen. Insofern sind die „Heilungschancen“ sogar besser als bei Kernpädophilen, die in aller Regel dauerhaft auf Sex verzichten müssen. Die Rückfallgefahr ist deutlich geringer als beim pädophilen Täter. Prof. Beier ermittelte für den regressiven Täter eine Rückfallquote von 10-30%.5)

 

3.) Der antisoziale Gewalttäter

Auch dieser Tätertyp ist deutlich vom Kernpädophilen abzugrenzen. Wie der regressive Täter ist auch der antisoziale Gewalttäter nicht primär auf Kinder fixiert. Sexualität ist für ihn nur ein Mittel, Macht und Gewalt über andere Menschen auszuüben. Dazu braucht er ein einfaches Opfer, das leicht zu überwältigen ist und sich schlecht wehren kann. Mit anderen Worten: Der antisoziale Gewalttäter vergeht sich an Kindern, weil sie die einfachsten Opfer sind. Er könnte sich zwar prinzipiell auch an Erwachsenen vergreifen, geht aber lieber den Weg des geringsten Widerstandes. Statistisch gesehen spielt der antisoziale Täter zwar eine untergeordnete Rolle, aber es ist seine hohe Gewaltbereitschaft, die ihn so gefährlich macht. Viele spektakuläre Gewaltverbrechen an Kindern (z. B. Entführungen mit anschließender Ermordung) gehen auf das Konto dieses Täterytps, der häufig überhaupt kein Empathievermögen hat und nur ein sehr unzureichend bis gar nicht ausgeprägtes Gewissen.

Die Prognose für den antisozialen Gewalttäter ist sehr schlecht, da ihm elementare menschliche Fähigkeiten fehlen, die er von frühester Kindheit an nie gelernt hat. Er gilt als kaum therapierbar, die Wiederholungsgefahr ist sehr groß. Aufgrund ihrer hohen kriminellen Energie werden diese Täter meist zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, am Ende der kriminellen Karriere steht nicht selten die dauerhafte Sicherungsverwahrung. Da es für diesen Tätertyp bislang weder Präventionsprogramme noch erfolgversprechende Therapieansätze gibt, wird von den antisozialen Gewalttätern wohl auch in Zukunft das größte Gefahrenpotential ausgehen.

 

Das größte Tabu: Frauen als Täter

Sexueller Missbrauch durch Frauen ist so ziemlich das größte Tabuthema, dass man sich in unserer Gesellschaft vorstellen kann. Während männliche Täter ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, werden weibliche Täter kaum wahrgenommen. Auch in der Fachwelt gibt es nur wenige Untersuchungen dazu. Oft wird bestritten, dass Frauen überhaupt in nennenswerter Zahl als Missbrauchstäter in Erscheinung treten. Dabei ist das Problem gar nicht so selten: Nach Zahlen von Deegener6) sollen Frauen immerhin für 10% aller missbrauchten Mädchen verantwortlich sein. Bei den sexuell missbrauchten Jungen soll es einen Täteranteil von 25% Frauen geben. Das ist zu viel, um von Einzelfällen zu sprechen. Aufgrund der hohen Tabuiserung wird bei weiblichen Tätern sogar von einer besonders hohen Dunkelziffer ausgegangen, deren Ausmaß sich nur schwer abschätzen lässt.7)

Die Täterinnen kommen praktisch immer aus dem direkten Umfeld der Kinder, manchmal sind es sogar die eigenen eigenen Mütter, die ihre Kinder missbrauchen. Auch Familienangehörige (z. B. Tanten, Großmütter), Erzieherinnen oder Pflegemütter können als Täterinnen in Erscheinung treten. Da drängt sich die Frage auf, ob bei diesen Frauen eine pädophile Neigung vorliegt, was sich als nahe liegende Erklärung anbietet. Gibt es eine weibliche Analogie zum männlichen Kernpädophilen, dessen ganzes sexuelles und emotionales Erleben auf Kinder gerichtet ist? Viele Sexualwissenschaftler sind der Meinung, Pädophilie sei eine typisch männliche Diagnose, die bei Frauen nur in absoluten Ausnahmefällen zu beobachten sei. Prof. Beier von der Charité berichtet, er habe in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Sexualmediziner erst eine einzige Frau kennen gelernt, bei der eine primär-pädophile Ausrichtung vorlag.8) Es gebe zwar Frauen, die Kinder missbrauchen, aber diese Fälle seien nicht auf eine pädophile Ausrichtung zurückzuführen, sondern auf „Ersatzhandlungen“. Nach Einschätzung von Beier gibt also kein weibliches Pendant zum männlichen Kernpädophilen, sondern eher zum regressiven Täter.

Andere Forscher meinen, es gebe durchaus pädophile Frauen. Im Gegensatz zu Männern hätten Frauen nur bessere Möglichkeiten, pädophiles Verhalten hinter der Maske von „Mütterlichkeit“ und „Fürsorglichkeit“ zu verbergen, so dass es von Außenstehenden nicht wahrgenommen wird. Auch ich halte diesen Einwand für berechtigt, denn die traditionellen Rollenklischees bieten weiblichen Tätern praktisch ideale Möglichkeiten, sexuelle Übergriffe zu kaschieren. Ein Mann, der den körperlichen Kontakt mit Kindern sucht (z. B. durch Kuscheln, Schmusen) wird sofort misstrauisch beäugt. Ganz anders bei Frauen: Hier gilt körperliche Zärtlichkeit gegenüber Kindern als Zeichen liebevoller Zuwendung, die so gut wie nie hinterfragt wird. Es würde mich nicht wundern, wenn hier einiges an sexuellen Grenzverletzungen stattfindet, die von außen niemals als solche registriert werden. Darüber hinaus kann ich mir vorstellen, dass es Frauen viel schwerer fällt, sich pädophile Gefühle einzugestehen und nach Hilfe zu suchen, weil die Vorstellung einer pädophilen Frau so gänzlich gegen die gesellschaftlichen Erwartungen verstößt.

Sofern sexueller Missbrauch durch Frauen überhaupt zu Kenntnis genommen wird, wird er nicht selten verharmlost und bagatellisiert. Während männlichen Tätern das Klischee vom brutalen Triebtäter anhängt, gelten missbrauchende Frauen zumeist als die „sanften Verführerinnen“, die den Kindern keine „wirkliche“ Gewalt antäten. Doch die Realität sieht anders aus: Alle empirischen Daten deuten darauf hin, das sexuelle Übergriffe von Frauen genauso folgenschwer sind wie die Taten von Männern.7) Aus der Opferarbeit sind Fälle bekannt, in denen kleine Jungen von Frauen sogar mit brutaler Gewalt missbraucht wurden.9) Erschütternde Fälle, die so gar nicht zu den gängigen Klischees von Tätern und Opfern passen.

Es gibt einige Versuche, auch weibliche Missbrauchstäter in verschiedene Kategorien einzuteilen.7) Diese Einteilungen sind allerdings sehr uneinheitlich und widersprechen sich teilweise, weshalb ich darauf verzichte, sie hier wiederzugeben. Daran wird deutlich, dass der Forschungsstand über weibliche Täter, ihre Motive und ihre persönlichen Hintergründe noch sehr lückenhaft ist und nur wenig gesicherte Aussagen zulässt. Vieles deutet aber darauf hin, dass sexueller Missbrauch durch Frauen ein viel zu wenig beachtetes Phänomen ist, dass in seiner Tragweite immer noch unterschätzt wird.

 

Zusammenfassung

Diese Einteilung kann natürlich nur ein grobes Raster darstellen. Sie enthält viele Vereinfachungen, denn jede Täterpersönlichkeit ist individuell, so dass es immer Täter und Tatumstände geben wird, die aus dem Rahmen fallen. Natürlich gibt es auch Überschneidungen zwischen den verschiedenen Kategorien, dennoch sind die beschriebenen Grundtypen vorhanden und lassen sich auch relativ sicher erkennen. Aus der Opferperspektive ist diese Unterscheidung vielleicht zweitrangig, denn für missbrauchte Kinder sind zunächst ganz andere Hilfen gefragt. Die Unterscheidung nach verschiedenen Tätertypen ist aber wichtig für die Prävention, denn unterschiedliche Täter haben unterschiedliche Motivlagen, die es genau zu erforschen gilt. Nur so kann man wirksame Präventionsstrategien erarbeiten, die langfristig weitaus mehr bringen als die rein strafrechtliche Verfolgung.

Keinesfalls soll diese Tätertypologie das Problem der Pädophilie verharmlosen, denn auch Pädophile missbrauchen Kinder, teils sogar mit hoher krimineller Energie. Ob es nun ein paar Prozent mehr sind oder weniger, spielt ebenfalls keine entscheidende Rolle, denn jeder Pädophile, der ein Kind missbraucht, überschreitet eine klare Grenze. Pädophile Täter halten sich zwar gerne für etwas Besonderes („Wir lieben ja die Kinder!“), aber letztendlich handeln sie genauso verwerflich wie alle anderen Täter auch.

Festzuhalten bleibt aber, dass eine pädophile Ausrichtung nur eine von mehreren möglichen Ursachen ist, die dazu führen kann, dass sich jemand sexuell an Kindern vergeht. Deshalb wäre es entschieden zu kurz gegriffen, die vielschichtigen Probleme des sexuellen Missbrauchs allesamt auf das Schlagwort Pädophilie zu reduzieren. Den Kindern ist damit am Wenigsten geholfen, denn solche Vereinfachungen sind nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, denn sie suggerieren einfache Lösungen für eine höchst komplexe Problematik, die man nur dann in den Griff bekommen kann, wenn man sie von allen Seiten angeht.

 

Literatur:

1) Groth, A.N., Hobson, W.F. & Gary, T.S. (1982). „The Child Molester: ClinicalnObservations“, Journal of Social Work & Human Sexuality

2) Schorsch, E. (1985): „Perversion als Straft. Dynamik und Psychotherapie“, Stuttgart 1985

3) H. Zonana, G. Abel (1999): „Dangerous sex offenders. A task force report of the American Psychiatric Association“ Washington, DC: American Psychiatric Association

4) Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): „Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-1.“, Sexuologie 12 (3/4)

5) Beier K. M.: „Dissexualität im Lebenslängsschnitt“, Theoretische und empirische Untersuchungen zur Phänomenologie und Prognose begutachteter Sexualstraftäter. Berlin 1995.

6) Deegener G. (2005) „Kindesmissbrauch. Erkennen, helfen, vorbeugen.“ 4. Auflage, Weinheim u. Basel 2009

7) Rossilhol, J.-B. (2002) „Sexuelle Gewalt gegen Jungen, Dunkelfelder“, Marburg 2002

8) AVINIUS: Interview mit Prof. Beier, 02.06.2007

9) Bange D. (2007): „Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens“, Göttingen 2007

aktualisiert: 11.12.2011