Montag, 22.10.2018

Ist Pädophilie eine Krankheit?

 

„Ihr seid alle krank, abartig und pervers!“ Beschimpfungen wie diese bekommt man als Pädophiler häufig zu hören, auch wenn man standhaft beteuert, dass man seine Sexualität nicht auslebt. Auch wenn man einen Menschen wegen seiner sexuellen Vorlieben nicht beleidigen darf, wird eine pädophile Ausrichtung für die meisten Menschen wohl immer etwas Krankhaftes und Beängstigendes bleiben, das sie nicht verstehen – und dem gegenüber sie nicht bereit sind, sich vorurteilsfrei zu öffnen. Das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, denn das Interesse der Pädophilen richtet sich auf ein extrem ungleiches Gegenüber; nämlich auf ein Kind, dass die sexuelle Zuneigung des Erwachsenen naturgemäß nicht erwidern kann – und möglichen Übergriffen schutzlos ausgeliefert ist. Eine pädophile Ausrichtung ist immer mit eine potentiellen Fremdgefährung verbunden, von daher ist die Einstufung als „krank“ und „unnormal“ zunächst das nahe liegendste.

 

Katalogisierung in ICD-10 und DSM-IV

Auch bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht Pädophilie auf der Liste der sexuellen Störungen. Das Standardwerk der WHO ist der ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems), ein international gültiges Klassifizierungssystem zur Erstellung von Krankheitsdiagnosen. Die Diagnose „Pädophilie“ wird dort unter dem Code F65.4 geführt. Zur Definition heißt es:

„Sexuelle Präferenz für Kinder, Jungen oder Mädchen oder Kinder beiderlei Geschlechts, die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden.“

(ICD-10, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th Revision, Version for 2006, Second Edition, Word Health Organisation, Geneva)

Auch im international anerkannten DSM-IV („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disordersit“), dem Klassifikationssystem der APA (American Psychiatric Association), wird Pädophilie unter dem Code 302.9 als psychiatrisches Krankheitsbild definiert. Die Diagnosekriterien des DSM-IV sind komplexer und differenzierter als die der Weltgesundheitsorganisation, weshalb sie von vielen Ärzten und Psychlogen als praxistauglicher angesehen werden (siehe: Diagnosemerkmale).

Die Pädophilen selbst wehren oft sich gegen die Pathologisierung ihrer sexuellen Empfindungen, denn sie sehen darin eine unterschwellige Abwertung nicht nur ihrer Sexualität, sondern in ihrer ganzen Persönlichkeit, die sich ja auch über die sexuelle Identität definiert. Außerdem impliziere der Begriff „Krankheit“ die Notwendigkeit einer Heilung bzw. Korrektur, was nach derzeitigem Wissenstand nicht möglich ist. Die Einstufung der Pädophilie als Krankheit stehe damit der gesellschaftlichen Akzeptanz der (strafffrei lebenden) Pädophilen entgegen, die es verdient hätten, so normal wie möglich behandelt zu werden. Noch weiter gehen die Vertreter der radikalen Pädophilen-Szene: Sie fordern die strafrechtliche Legalisierung sexueller Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Einstufung der pädophilen Ausrichtung als Krankheit passt bei solchen Zielen überhaupt nicht ins Konzept, schließlich will man die Pädophilie in jeder Hinsicht als gleichwertige Sexualform anerkannt wissen.

Prof. Berner (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) äußerte sich einst in einem ZDF-Interview: „Also Pädophilie ist keine Krankheit, sondern eher eine Neigung.“, womit er wohl ebenfalls auf die illusionären Heilungsaussichten anspielte. Die moderne Sexualmedizin gibt auf die Frage nach dem Krankheitswert eine diplomatische Antwort: Sämtliche sexuellen Paraphilien (zu denen auch die Pädophilie gehört) gelten heute nur noch dann als krankhaft, wenn der Betroffene entweder selbst darunter leidet, oder wenn er sie in einer Art und Weise ausgelebt, dass er damit gegen die sexuelle Selbstbestimmung Anderer verstößt. Die Fachleute der Charité schreiben dazu:

Gemeinsam ist all diesen sexuellen Vorlieben und Neigungen wie erwähnt, dass sie solange nicht als krankheitswerte und darum behandlungsbedürftige Sexualstörungen angesehen werden, wie die so empfindenden Personen nicht sich oder andere durch ihr Verhalten bzw. ihre Handlungen beeinträchtigen oder schädigen und solange mit der jeweiligen sexuellen Vorliebe kein Leidensdruck und keine soziale Desintegration für die betreffende Person selbst verbunden ist.“

(Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10.“, Sexuologie 12 (3/4), S. 144)

Für das Problem der Pädophilie würde das bedeuten: Ein Pädophiler, der nicht unter seiner Ausrichtung leidet und auch keinen Sex mit Kindern hat, wäre demnach auch nicht als krank zu bezeichnen. In der Praxis dürfte ein solcher Zustand völliger Leidensfreiheit jedoch höchst selten sein. Eine pädophile Ausrichtung führt praktisch immer zu Leid; entweder der Betroffene leidet innerlich oder er missbraucht Kinder und sorgt damit für Leid auf Opferseite. Mir hat noch kein Pädophiler glaubhaft versichert, dass er mit seiner sexuellen Ausrichtung rundherum glücklich ist. Von daher halte ich es schon für gerechtfertigt, eine pädophile Ausrichtung als etwas Krankhaftes zu bezeichnen.

 

Ohne Krankheit keine Therapie

Wobei ich betonen möchte, dass der Begriff Krankheit für mich nichts Abwertendes hat. Eine Krankheit ist eine gesundheitliche Einschränkung körperlicher, seelischer oder geistiger Art, die mich in meiner Lebensqualität in irgendeiner Form einschränkt. Dies trifft auf die Pädophilie zu. Die Sekundärsymptome (z.B. Depressionen, sozialer Rückzug) können ganz beträchtlich sein und sich in vielfältigen psychosomatischen Erkrankungen ausdrücken. Von daher kann es für einen Betroffenen sogar eine Entlastung sein, die pädophile Präferenz als Krankheit einzustufen, denn dies berechtigt ihn, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Gerade der letztgenannte Punkt stellt für mich ein sehr gewichtigen Grund dar, den Krankheitsstatus der Pädophilie nicht in Frage zu stellen. Andernfalls würden die Krankenkassen nämlich keine vorbeugenden Therapien mehr bezahlen für Pädophile, die unter ihrer Neigung leiden ‒ sei es, weil sie es für sich selbst als Belastung empfinden oder weil sie Angst haben, sie könnten ein Kind missbrauchen. Die Therapiemöglichkeit muss jedoch gegeben sein, und auch die Möglichkeit, die Kostenübernahme bei den Krankenkassen einzufordern.

Alles in allem befürworte ich es deshalb, eine pädophile Ausrichtung auch zukünftig Krankheit zu klassifizieren, denn nur dann wird es möglich sein, ausreichend Therapieplätze zu schaffen, von denen es immer noch viel zu wenige gibt. Es geht also bei der Frage nach dem Krankheitswert nicht um moralische (oder gar diskriminierende), sondern um pragmatische Überlegungen. Für mich persönlich sollte der Krankheitsstatus kein Grund sein, mich wegen meiner Pädophilie-Diagnose als minderwertig zu fühlen oder mich dafür zu schämen. Dazu ein Vergleich: Wer einen Herzschrittmacher trägt, gilt auch als krank, aber niemand würde auf die Idee kommen, jemanden wegen einer Herzkrankheit als schlechten Menschen anzusehen. Man wird ihn unterstützen, so gut es geht und ihm helfen, ein möglichst normales Leben zu führen. Niemand würde auf die Idee kommen, einem Herzkranken immer wieder vor Augen zu halten, wie „anders“und wie „unnormal“ er ist. Nur mit uns Pädophilen geht man so um, obwohl die Pädophilie-Diagnose als solche genauso wertfrei zu betrachten ist wie jede andere Krankheit. Der einzige Unterscheid ist: Eine pädophile Ausichtung ist potentiell fremdgefährdend, während andere Krankheiten zumeist nur für den Betroffenen gefährlich sind.

aktualisiert: 16.09.2011