Montag, 22.10.2018

 

Die Frage nach den Ursachen

von Marco

 

Als Betroffener habe mich schon oft gefragt: Wie kommt es dazu, dass ich mich als Erwachsener sexuell zu Kindern hingezogen fühle? Selbst in der Wissenschaft herrscht über diese Frage immer noch große Uneinigkeit. Es gibt Experten, die betonen den prägenden Einfluss biographischer Faktoren, andere weisen auf eine genetische Disposition hin. Als Betroffener fühle ich mich oft sehr verloren, wenn ich die entsprechenden Fachdiskussion verfolge. Es gibt keine einheitliche Sichtweise, von einem allgemein anerkannten Behandlungskonzept ganz zu schweigen. Nur in einem Punkt herrscht weitestgehend Einigkeit: Die wenigsten Fachleute plädieren für eine Legalisierung pädophiler Sexualkontakte.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Psychoanalyse die dominierende therapeutische Schule. Dort zählt die Pädophilie zu den klassischen Perversionen und wird zumeist auf eine gestörte Mutterbeziehung zurückgeführt, wobei sich die einzelnen Theorien im Detail unterscheiden.1) Frühe psychoanalytische Autoren sprechen z. B. von einer „traumatischen Entwöhnung der Mutterbrust“ 2) 3), in den 80er-Jahren sprach der US-amerikanische Psychiater William Glasser von einer Gleichzeitigkeit von Nähebedürfnis und Aggression gegenüber der Mutter.4) In neuerer Zeit hat sich Prof. Wolfgang Berner (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) intensiv mit psychoanalytischen Theorien zur Pädophilie beschäftigt. Er geht davon aus, dass sich bei Pädophilen die „Primärbeziehung zur Mutter auf zwanghafte Weise“ wiederholt. Pädophile erzeugen in ihren Kontakten zum Kind demnach ein „Mutter-Kind-Autoritätsmuster“, das einen reziproken Austausch zwischen gleichberechtigten Partnern unmögliche mache.1) In der 90er-Jahren wies Berner außerdem darauf hin, dass bei vielen Pädophilen der Vater als männliche Identifiaktionsfigur gefehlt hätte. Erwachsene Frauen erscheinen dem Pädophilen deshalb Angst machend und übermächtig.5) Auch der österreichische Forensiker Fritz Lackinger verweist auf die „physisch oder psychisch“ abwesenden Väter, die dem Kind wenig Anhaltspunkte bieten, sich aus der „Ambivalenz gegenüber der Mutter“ herauszuziehen.1) Den Mechanismus, der sich daraus ergibt, beschreibt Lackinger mit folgenden Worten:

Die Mütter/Sexualpartnerinnen werden von Pädophilen dementsprechend als kontrollierend und/oder verschlingend erlebt. Die Mütter erscheinen „riesig“, und dem können diese Patienten nur durch Umkehrung entgehen, indem sie sich kleine, kontrollierbare ,Partner´ suchen.“

(Fritz Lackinger: „Psychoanalytische Überlegungen zur Pädophilie“, Der Psychotherapeut 4/2009, S. 266)

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor die Psychoanalyse zunehmend an Bedeutung, so dass heute nur noch wenige Fachleute eine rein psychoanalytische Sichtweise vertreten. Einen unerwartet starken Aufschwung erlebte dagegen die Neurobiologie. Hier versucht man, die Entstehung einer pädophilen Präferenz primär auf hirnorganischer Ebene zu erklären. Dabei bedienen sich die Mediziner modernster technischer Verfahren wie der Magnetresonanz- oder Kernspintomographie. Diese Verfahren erlauben ganz neue Einblicke in die Anatomie des menschlichen Gehirns, wie sie bis vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht möglich waren. In den letzten Jahren wurden mehrere Studien veröffentlicht, in denen sich signifikante neurologische Auffälligkeiten bei pädophilen Straftätern feststellen ließen. Aufgrund der uneinheitlichen Befunde und der zu geringen Fallzahlen lassen sich die Ergebnisse aber derzeit noch nicht verallgemeinern. (siehe auch: Ist Pädophilie eine hirnorganische Störung?).


Ein Zusammenspiel vieler Faktoren

Im Widerstreit der therapeutischen Schulen konnte sich bislang keine Sichtweise eindeutig durchsetzen, denn offiziell gilt die Ursache der Pädophilie noch immer als ungeklärt. Die meisten Fachleute geben deshalb eine diplomatische Antwort, wenn sie nach den prägenden Faktoren gefragt werden:

Pädophilie stellt also eine besondere Ausprägungsform einer sexuellen Präferenz dar, nämlich die sexuelle Ausrichtung auf Kinder. Eine solche sexuelle Ausrichtung ist keine Wahlentscheidung, sondern – nach dem derzeitigen Stand der sexualwissenschaftlichen Kenntnis – das Produkt eines bio-psycho-sozialen Entstehungsprozesses.“

(Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): „Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10.“, Sexuologie 12 (3/4), S. 147)

Ich habe für mich selbst noch keine abschließende Antwort auf die Frage gefunden, warum ich pädophil geworden bin. Der Psychoanalyse stehe ich eher kritisch gegenüber, auch wenn ich die Grundaussagen einer gestörten Mutter- und/oder Vaterbeziehung bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann Ebenso wenig glaube ich, dass eine pädophile Ausrichtung rein genetisch bedingt ist im Sinne eines vorherbestimmten Schicksals. Vorstellen kann ich mir aber, dass es bestimmte, genetisch vorgegebene Persönlichkeitsstrukturen gibt, die im Zusammenspiel mit biographischen Konstellationen die Entstehung einer pädophilen Präferenz begünstigen. Auch einen Zusammenhang mit bestimmten Kindheitserlebnissen halte ich für sehr wahrscheinlich, denn ähnlich wie Berner und Lackinger ist auch mir aufgefallen, dass viele Pädophile eine gestörte Vaterbeziehung hatten und ohne männliches Vorbild aufwachsen mussten. Auffällig ist auch, dass fast alle Pädophilen von sich sagen, sie seien gefühlsmäßig noch stark in ihrer eigene Kindheit verhaftet und hätten es schwer, sich selbst als erwachsene Menschen anzuerkennen. Ebenso berichten viele Pädophile, dass sie sich unter Kindern viel wohler fühlen als unter anderen Erwachsenen. Diese Beobachtung ist auch in der Fachwelt nicht neu. Bereits 1997 schrieb die Sexualtherapeutin Sophinette Becker:

Pädophile idealisieren auch die Kindheit an sich, nur nicht die eigenen, wozu sie auch meist wenig Anlass haben.“

(Becker S.: „Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung“, „Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik“, Nr. 38, 1/1997)

Von daher bin ich sicher: Pädophilie hat immer etwas mit dem geheimen Wunsch zu tun, die eigene Kindheit nachzuholen, mit dem eigenen inneren Kind ins Reine zu kommen. Ich behaupte auch, dass Menschen mit schwieriger oder traumatischer Kindheit haben im Erwachsenenalter ein höheres Risiko, eine pädophile Neigung auszubilden. Das Erklärungsmodell der „schwere Kindheit“ überzeugt für sich allein aber nicht. Schließlich gibt es viele Menschen, die eine schwere Kindheit hinter sich haben, aber längst nicht alle davon werden später pädophil. Allerdings verarbeiten Menschen ihre Erfahrungen sehr unterschiedlich. Die Entstehung einer pädophilen Neigung hat möglicherweise damit zu tun, wie ein Mensch bestimmte Erfahrungen bewältigt. Vielleicht sind pädophile Menschen in mancher Hinsicht empfindlicher als andere, vielleicht können sie bestimmte Erfahrungen nicht so gut wegstecken. Dazu würde die Beobachtung passen, dass Pädophile oft sehr sensible und verletzliche Menschen sind. Möglicherweise fehlen ihnen bestimmte Kompensationsmechanismen, um über belastende Erfahrungen besser hinweg zu kommen. Bei dieser inneren Verletzlichkeit könnte es ich um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal handeln, so dass hier möglicherweise die genetische Komponente der Pädophilie liegt, auf die auch Ahlers, Beier und Schaefer anspielen (siehe oben).


Die Ursache bleibt ungeklärt

Es gibt Pädophile, die von sich sagen, sie hätten eine glückliche Kindheit gehabt. Sie werden die Theorie der gestörten Bindung womöglich zurückweisen und für sich selbst zu anderen Ergebnissen kommen. Das ist legitim, denn es gibt ohnehin nicht die Pädophilie als einheitliches Störungsbild, sondern immer nur den einzelnen Pädophilen mit seinem ganz individuellen Schicksal. Von daher wäre es denkbar, dass es gar keine alleinige Ursache gibt, die zur Entstehung einer pädophilen Ausrichtung führt. Möglicherweise gibt es ganz verschiedene Biographien und Rahmenbedingungen, die am Ende alle zu dem Ergebnis führen können, das sich jemand sexuell zu Kindern hingezogen fühlt.

Vorerst werden wir ‒ sowohl die Betroffenen als auch die Fachleute ‒ damit leben müssen, dass sich die Frage nach den Ursachen einer pädophilen Ausrichtung nicht eindeutig beantworten lässt. Sicher scheint jedenfalls, dass wir Pädophile wohl alle ein Stückchen mehr in unserer Kindheit hängen geblieben sind als andere Menschen. Das kann aber niemals eine Entschuldigung sein, wenn jemand seine Neigung auslebt. Wir Pädophile müssen uns der Verantwortung für unsere Sexualität stellen wie jeder erwachsene Mensch. Ich bin sicher, für eine verantwortungsvolle Lebensführung ist die Frage nach den Ursachen zweitrangig, denn darauf gibt es nach heutigem Erkenntnisstand keine eindeutige Antwort. Man sollte pragmatisch denken und nach klaren Regeln suchen, wie man als pädophiler Mensch sein Leben verantwortungsvoll gestalten kann. Das scheint mir der einzige Weg zu sein, der uns weiter bringt.
 

Literatur:

1) Lackinger F. (2009): „Psychoanalytische Überlegungen zur Pädophilie“, Der Psychotherapeut 4/2009

2) Cassity J. H. (1927) :„Psychological consideration of pedophilia“, Psychoanalytical Review No. 14

3) Hadley C (1926): „Comments on pedophilia“, in: Medical Journal and Record, August 4, 1926,

4) Glasser M (1988) „Psychodynamic aspects of paedophilia“,Psychoanalytic Psychotherapy 3(2)

5) Berner W (1993): „Das Kastrationsthema bei der Pädophilie“, Zeitschrift für Psychoanalytische Theorie und Praxis 8 (4), 1993

aktualisiert: 17.03.2012