Warnglocken nach Androcur®
von Max
Unter der leicht ironischen Überschrift Mit Schock zum Glück beschrieb ich ein Erlebnis aus dem letzten Drittel meiner Therapie, also nach halbjähriger Behandlung mit Antiandrogenen. Längst hatte ich noch nicht alles verarbeitet, aber schon einen Grundstock gelegt für verschiedene Bewältigungsstrategien für Kontakte mit Kindern. Nach Absetzen von Androcur® gibt es unter anderem folgendes interessantes Erlebnis zu berichten:
Schlittenfahrt
Für mich habe ich festgestellt, dass zum Teil auch das Gefühl schwindet, die Impulse selbst: Nach etwa drei Monaten ohne Androcur® war ich im Winter bei Bekannten eingeladen. Eine Winterwanderung inklusive Rodeln, dabei auch ein Mädchen von 8 Jahren. Dabei bin ich auch einmal mit ihr auf demselben Schlitten gefahren – Hoppla! Wo sitzt denn das Kind dabei? – Und es war 100%ig okay, kein Impuls, mehr daraus zu machen, und nicht einmal ein unsicheres Gefühl. Da war ich erstmal total happy!
Aber es gibt ebenso Momente, wo ich ein Mädel nicht mal anzusehen vermag, ohne auch die sexuelle Anziehung deutlich zu spüren. In diesem Fall hätte ich sie höchstens unterwegs mal auf dem Schlitten gezogen. Am selben Abend, wieder daheim bei den Gastgebern, habe ich dasselbe Mädchen zum Beispiel aus Jux einmal mit den Fingern so in die Rippen gepiekst, dass es kitzelt. Eigentlich eine nette unverfängliche Art, jemanden zu necken. War auch nicht schlimm, aber für mich gefühlsmäßig ein wenig zu weit. Das habe ich sofort gemerkt, wie eine Warnglocke, und werde es so schnell nicht wiederholen – habe tatsächlich seither alle solchen Neckereien vermieden.
Drei-Stufen-Modell
Danach gab es weitere Situationen, wie die folgenden drei: Wegen einer Neuigkeit noch sehr niedergeschlagen war ich bei anderen Bekannten zu Besuch. Deren kleine Tochter (4) lud mich ein, mit ihr zu spielen. Ich gab mir alle Mühe, kam aber nicht aus der Trauer heraus. Als sie das merkte, versuchte sie mich zu trösten und kletterte dabei neben mich auf meinen Sessel. Wieder eine Warnleuchte in meinem Kopf, kurze Selbstprüfung (Statusabfrage an Herz und Körper), aber diesmal war alles in mir okay. Keine schädlichen Impulse, auch die Gefühle blieben ruhig.
Kurz darauf war die Stimmung wieder etwas gelöster und ich saß an einem Tisch. Die Mutter saß mir gegenüber und ihre Kleine kletterte auf meinen Schoß. Auch das ließ ich zu, aber es war nicht okay, weckte sexuelle Gefühle und Assoziationen, die ich hier nicht hätte ausklammern oder auf einen sicheren Platz verweisen können – für diese habe ich bisher einfach noch keinen. Noch in dieser Überlegung fing sie auch noch an, mit aller Gewalt auf meinem Schoß herum zu hopsen – und lieferte mir damit gleich eine ideale offizielle Begründung frei Haus, sie sofort herunter zu setzen: das Mädel entwickelte dabei so viel Kraft, dass sie mir buchstäblich weh tat.
Dritte Situation: einige Tage später, die gleiche Familie, dasselbe Kind, diesmal aber etwas kränklich. Sie hatte wohl eine leichte Erkältung. Ich war in der Öffentlichkeit (unter gemeinsamen Bekannten) eine Weile mit ihr allein. Sie recht müde und schlapp, wie man es bei einer Erkältung halt ist. Ich hab mich ein bisschen mit ihr unterhalten, wie es ihr geht, versucht, sie aufzumuntern. Beim Erzählen griff sie dann unvermittelt meine Hand, drehte und wendete sie – ich wunderte mich, was sie vorhatte – und begann schließlich, sie ganz zärtlich zu streicheln. Wieder eine Warnleuchte: Auch das weckte leichte sexuelle Regungen in mir. Diesmal jedoch in einer Situation, wo ich sah, wie ich diese Gedanken notfalls „wegstecken“ konnte. Ich sah keinen Weg, die Hand zurückzuziehen, ohne die Situation völlig kaputt zu machen, wohl aber eine Möglichkeit anderweitig zu fliehen, nämlich in die Passivität: ich blieb sitzen und verdammte die sexuellen Reize zur Untätigkeit indem ich schlicht nicht folgte. Zwar ließ ich das Mädchen gewähren und beobachtete, zeigte aber keine aktive Reaktion auf die Streicheleinheit. (Denn auch hier hätte ich nicht sicher aktiv werden können.)
Ich konnte diese Situation genießen, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl im Bauch: dem Bewusstsein meiner eigentlich unangebrachten sexuellen Gefühle, dass ich wegen dieser Gefühle momentan nichts adäquat (also sicher) zurückgeben könne. Vielleicht ein bisschen, wie wenn sich einem ein Schmetterling auf die Schulter setzt (der Vergleich kam in der Gruppentherapie mal auf): beobachte ihn, bewundere ihn, danke dafür, aber greife ihn nicht! (Bei allen drei Begebenheiten war die Mutter nicht weit, bei der ersten und zweiten in direkter Sicht- und Hörweite, bei der letzten nicht ganz, dafür aber viele andere Bekannte unmittelbar um uns herum.)
Das sind 3 grundlegende Varianten, auf die ich im Kontakt mit Kindern meines Präferenzbereichs immer wieder gestoßen bin:
1) Nähe, die ohne Fantasterei und aktive Reizsuche einfach keinen Reiz darstellt oder ihren früheren Reiz verloren hat, d.h. sie erzeugt erst gar keine anzüglichen Momente (mehr). Fordert trotzdem gute Aufmerksamkeit.
2) Nähe, die zwar noch einen eindeutigen Pegel sexueller Erregung hervorruft, dem ich aber wirksam ausweichen kann. Mitunter erfordert das echt Kraft, mindestens jedoch leicht verschärfte Selbstbeherrschung.
3) Nähe, die mich zwingt aktiv zu werden, aber ein Maß sexueller Assoziationen wachruft, dass ich nicht mehr zielsicher herausfiltern oder ausgleichen kann – die zur Sicherheit also aktiven Abbruch und Flucht erfordert. Fordert Flucht.
Bei Variante 1 ist es fast egal, ob von meiner Seite Aktivität erwartet wird, weil von vornherein kein Bezug zu sexuellen Impulsen da ist. Aber auch nur „fast“. Insgesamt erlebe ich diese Empfindungen immer als schwankend: was heute in den Bereich 2 fällt, mag Morgen eindeutig 3 sein und umgekehrt. Bezüglich mancher Kontakte bleiben meine Gefühle lange konstant während sie bei anderen irgendwann ab- oder zunehmen. Für mich konnte ich darin noch keine feste Regelmäßigkeit finden.
Noch eine Anmerkung: „Keine anzüglichen Momente erzeugen“ heißt längst nicht, dass sexuelle Anziehung dabei keine Rolle spiele! Denn nicht nur direkte körperliche Reaktionen gehören zur Sexualität dazu. Auch nicht starke emotionale Reaktionen allein, sondern schon viel subtilere Effekte: Zum Beispiel, dass Berührungen durch jemanden vom anderen Geschlecht mitunter ganz anders wahrgenommen werden als solche von Geschlechtsgenossen. In der ARD-Dokumentation „Das Ende der Kindheit“ beschrieb ein Mädchen diesen Effekt sehr schön. Oder, dass man lieber der Nachbarin hilft, als dem Nachbarn. Wer aber wollte diese Phänomene an sich bereits als „anzüglich“ bezeichnen? Solang sie natürlich nicht in Richtung absichtlicher Reizung und sexueller Bindung ausgebaut werden.
Fazit für mich nach Androcur®:
Trotz Wiederkehr mancher Gefühle seit dem Ende der Medikation gelingt es mir, sachlicher und deutlich sicherer mit meinen Empfindungen umzugehen, als vor der Therapie und der medikamentösen Behandlung. Und auch das Gefühl von schrecklicher Unsicherheit und unberechenbarer Gefahr, das gegen Ende der Therapie noch dominiert hatte, hat sich mittlerweile in den meisten Kontakten deutlich gelegt.
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© 2009 Max