Montag, 22.10.2018

Ein Traum

von Max

 

Beim Camping an der Ostsee vor etwa drei Jahren waren zahlreiche Kinder auf unserem Zeltplatz. Sie sind gemeinsam um die Zelte und Wohnwagen gezogen und haben ihre Fantasiewelten aufgebaut: laut hörte man sie erzählen und sich absprechen, was sie spielen wollten, wer in welche Rolle schlüpfen solle, wenn sie an unserem Wagen vorbei liefen, hopsten, rannten oder fuhren. Oder man wurde eingeladen, ihnen am neu eröffneten Souvenir-Stand selbst gesammelte Muscheln abzukaufen. An einem Abend dort ging mir das alles durch den Kopf und mir kam das Heulen an, als ich sah, dass mir all das fehlte: ich habe als Kind niemals so mit anderen gespielt! Ich konnte es nicht: ich habe sie nicht verstehen und leiden können und sie mich auch nicht, bis auf wenige Ausnahmen. Solche Gruppenaktionen waren unmöglich.

Warum das gegenseitige „nicht verstehen und leiden können“? Nun, dabei spielte meine Hyperaktivität (ADHS) eine große Rolle: Neben der „etwas anderen“ Art der Wahrnehmung und Kommunikation (was oft Missverständnisse provoziert) fällt es Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom extrem schwer, sich festgelegten Spielregeln zu unterwerfen. Zudem schießen uns ständig neue Ideen durch den Kopf, die wir als Kind auch immer SOFORT und UNBEDINGT umsetzen wollen. Das stellt oft eine nervliche Zerreißprobe für das ganze Umfeld dar. Aus Sicht des ADS-Kindes sind diese Differenzen nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen oder zu beheben: „Warum haben die anderen denn ein Problem damit? Sollen sie doch mitmachen!“, mehr hab ich nicht gesehen und die Reaktionen als unfair empfunden. Die Folge: Viele soziale Bindungen zerbrechen, noch ehe sie richtig entstanden sind. Zum Glück ist das nur EIN Aspekt von ADS, wenn auch ein trauriger. Eine hervorragende Übersicht dazu, was es für die viele Betroffene heißt mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit/ohne Hyperaktivität zu leben, habe ich hier gefunden:

Innenansichten ‒ Wie sich ADS-Betroffen fühlen

An jenem Abend habe ich für mich so formuliert, dass ich tatsächlich vieles dafür geben würde, könnte ich nur einmal mit meinem jetzigen Wissen wieder Kind sein. Klar, dass das ein unerfüllbarer Traum war. Betonung auf „war“ – als Vergangenheitsform!

In einem Reiturlaub ein Jahr darauf kamen mein Vater und ich irgendwann mit dem Sohn der Hofbesitzer in Kontakt (8-9 Jahre). Erst haben wir Fußball gespielt – gemeinsam gegen ihren Hund –, dann Fange und zuletzt sind wir noch auf den großen Heuballen im Stall herumgeklettert. Seit meiner eigenen Grundschulzeit war ich keinem Heuballen mehr begegnet und habe genau das lange vermisst, es mittlerweile fast vergessen gehabt! Abgesehen davon wurde mir erst im Nachhinein klar, wie er mich damit in seine Welt mitgenommen hat. Mich einfach angenommen als leicht überdimensioniertes anderes Kind, denn er hat mit mir nicht wie ein Kind mit einem Erwachsenen gespielt, sondern wie mit seinesgleichen. Wenn sich auch mit mir dank größerer Körperkraft teilweise mehr anfangen ließ, als mit einem Gleichaltrigen (an dessen Arm er sich zum Beispiel nie vom Heuballen hätte abseilen können…)

Auf der Rückfahrt realisierte ich, dass der Urlaub buchstäblich Träume erfüllt hatte, dass in den letzten zwei Tagen genau das passiert war, was ich an der Ostsee gar nicht zu hoffen wagte: Mit dem jetzigen Wissen nochmal Kind sein dürfen, wenn auch nur für kurze Zeit! Und noch ein Bonus daran: für mich blieb dieses Erlebnis außerdem frei von jedem sexuellen Kontext, was bei einem Mädchen nicht der Fall gewesen wäre. Auch das war eine große Entlastung und eine gute Erfahrung für mich.

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© 2010 Max

aktualisiert: 01.11.2011