Montag, 22.10.2018

Meine „Feuerprobe“

von NewMan

 

Es ist mittlerweile schon eine kleine Ewigkeit her, dass ich am Projekt „Dunkelfeld“ an der Berliner Charité teilgenommen habe. So wie alle anderen Teilnehmer habe auch ich in dieses Projekt einiges an Zeit, Nerven und Geld investiert. Und ich finde, es hat sich gelohnt! Als ungefähr die Hälfte der wöchentlichen Sitzungen hinter mir lag, saß ich wieder einmal in der Berliner S-Bahn Richtung „Friedrichstraße“, auf dem Weg zur Charité. Draußen war bestes Wetter: Wolkenloser, blauer Himmel, strahlende Sonne. Kaum, dass ich saß, war ich mit meinen Gedanken auch schon bei dem, was mich die nächsten Stunden erwarten würde.

Ein recht kleiner, karg eingerichteter, weißer Raum, in dem ich mit zwei Therapeuten und neun anderen pädophil veranlagten Männern im Kreis sitzen werde, um mich meinen finstersten Gedanken, Ängsten und sexuellen Gefühlen zu stellen- mit dem Ziel, sie mein Leben lang, mit möglichst geringem Kraftaufwand, zu beherrschen und mit ihnen leben zu lernen. Vorher werde ich mich vergeblich bemühen, auf der Straße meinen roten Kopf zwischen meinen Schultern zu verstecken, während ich das Institut für Sexualwissenschaften betrete. Irgendwie befürchtend, jemand könne mir hinter die Stirn sehen. Gerade so, als würde ich etwas Falsches oder Schlechtes tun. Als müsste ich mich dafür schämen, was ich hier mache. Verrückte, verdrehte Welt...

Ungefähr in diese Richtung gingen meine Gedanken, als sich mir gegenüber eine junge Asiatin setzte, und neben ihr saß plötzlich ‒ SIE! Ca. sechs Jahre jung, mit rotem Kleid und weißen Punkten. Ihr niedliches Gesicht wurde eingerahmt von ebenholzschwarzem, schulterlangem Haar, das in der Sonne glänzte. Die beiden waren am Reden, natürlich in ihrer Muttersprache. Ich verstand kein Wort. Aber ich merkte, die Stimme dieses Mädchens jagte mir warme Schauer über den Rücken. Alles, ihre Stimme, ihre Bewegungen… So angenehm- und doch so traurig! Was würde ich darum geben, ihre Mutter in der Art attraktiv finden zu können. Die beiden redeten miteinander. Irgendwie ging es wohl darum, dass sie etwas wollte, was die Mutter ablehnte. Schließlich beendete die Mutter das Gespräch, indem sie begann, aus dem Fenster zu sehen. So entging ihr auch dieser süße Schmollmund, der eigentlich hätte Eisberge zum schmelzen bringen können.

Aber diese Phase dauerte nur sehr kurz, denn, sie entdeckte ihren Schatten. Die Sonne stand hoch und schien in unser Fenster. Wir warfen somit allesamt sehr klare Abbilder auf den Boden des S-Bahnabteils. Natürlich begann sie, mit ihrem Schatten zu spielen, sie winkte ihm zu und machte Faxen. Ich kramte in meiner Erinnerung, welche Schattenbilder ich noch kannte. Dann positionierte ich meine Hände und ließ auf dem Fußboden den Kopf eines Hundes entstehen, so richtig mit wackelnden Ohren und sich bewegender Schnauze. Sie entdeckte den „Hund“ und begann, mit wachen Augen sehr konzentriert immer zwischen dem „Hund“ und meinen Händen zu pendeln.

Dann veränderte ich die Stellung meiner Hände und plötzlich begann ein Vogel über den Boden zu fliegen. Da fing sie an zu lachen. Ihre Mutter wandte sich nun auch dem Schauspiel zu und lächelte amüsiert. Die anderen Fahrgäste nahm ich überhaupt nicht wahr. Es gab nur uns drei. Und wieder änderte sich das Bild: Diesmal in einen Hasen, mit wackelnden Ohren und Vorderläufen. Dieses kindliche Lachen- ein tolles Bild! Damit war mein Repertoire erschöpft. Aber das machte gar nichts, wir hatten unseren Spaß. Ich kehrte wieder zum Hund zurück (der einfachsten der Figuren) und zeigte ihr, wie es funktionierte. Am Anfang mit mäßigem Erfolg. Ich dachte darüber nach, ihre Finger so zu positionieren, damit das Bild funktionierte, aber diesen Gedanken verwarf ich sehr schnell wieder. Am Ende klappte es trotzdem.

Ich bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass wir aus dem S-Bahnhof „Hackescher Markt“ ausfuhren, die Nächste musste ich raus. So winkte und lächelte ich den beiden zu, sagte „Auf Wiedersehen“, stand auf und ging zur Tür. Ich befand mich irgendwie in einem undefinierbaren Zustand zwischen Traurigkeit und einer Art Euphorie und ließ die letzten Minuten Revue passieren. Plötzlich merkte ich, wie sich etwas in meiner linken Hand bewegte. Könnte das eventuell die Hand eines Kindes sein?

Ich war zum Glück zu sehr in Gedanken, um zu erschrecken. Blickte nur erstaunt an meinem Arm herunter ‒ und sah der Kleinen direkt ins lächelnde Gesicht. Hinter uns stand ihre Mutter, sie lächelte mich ebenfalls an. Ich war mir in diesem Moment nicht nur sicher, dass auch die beiden hier aussteigen mussten, sondern auch, dass dieses Mädchen tatsächlich meine Hand ergriffen hatte und mir mit dieser Geste einen wundervollen Vertrauensbeweis schenkte. Es war für mich der spürbare Beleg für ein Vertrauen, welchem ich mich immer würdig erweisen will. Eine unglaublich schöne, unvergessliche Situation. So kam es schließlich, dass ich die Berliner S-Bahn verließ, Hand in Hand mit einem ca. sechs jährigen asiatischen Mädchen, von dessen Sprache ich nicht mal ein Wort verstand…

Draußen angekommen ließ ich ihre Hand los, hockte mich vor sie, um auf gleiche Augenhöhe zu kommen, bot ihr meine rechte Hand (die sie annahm) und sagte noch mal „Auf Wiedersehen“. Nach dem ich mich auch noch mal von ihrer Mutter verabschiedet hatte, ging ich den Weg, den ich zu gehen hatte. Nach eigentlich nur kurzer Zeit drehte ich mich noch einmal um. Aber die beiden waren schon im Pulk der Fahrgäste verschwunden. Ich werde sie nie vergessen.

Ohne das Projekt „Dunkelfeld“ hätte ich das alles niemals erlebt. Und das nicht nur deshalb, weil ich ohne dieses Projekt keine Veranlassung gehabt hätte, ausgerechnet in dieser Stadt, zu dieser Zeit, in dieser Bahn zu sitzen. Wären die Zwei mir ein halbes Jahr früher begegnet, dann hätte ich vermutlich mehr oder weniger panisch die Flucht ergriffen, ungeachtet der fragenden Blicke, die sich vermutlich in meinen Rücken gebohrt hätten. Aber so konnte und musste ich in dieser Situation (zum ersten Mal in meinem Leben!) Etliches von dem real anwenden, was ich zuvor gelernt hatte.

Die Analyse der Situation war schnell erledigt. Da war die Mutter, die anderen Fahrgäste, keinerlei intime Situation. Kein Grund also für „roten Alarm“. Aber da war auch noch das Mädchen, auf das ich sehr emotional reagierte. Also „Alarmstufe gelb“! Ich begann, mich zu beobachten: Meine Mimik und Gestik, meine Blicke; also meine gesamte Außenwirkung. Weder wollte ich dem Kind irgendwelche unangenehmen Gefühle zumuten, noch mich auf irgendeine Art und Weise vielleicht sogar outen.

Ich hörte in mich hinein: Was denke, was fühle ich? Wenn ich etwas tue, MIT WELCHEM ZIEL tue ich es? Innerlich war ich absolut aufgeregt, aber äußerlich zwang ich mich zur Ruhe. Meine Intention war nur darauf ausgerichtet, sie zu unterhalten. Dann begann ich, ihr die Handhaltung für den Hundekopf zu zeigen und darüber nachzudenken, sie an den Händen zu berühren, um die Finger richtig zu positionieren, und merkte recht deutlich, dass es mir dabei eben nicht nur um den Hundekopf gegangen wäre. Also STOP, Keinen Millimeter weiter! Die restliche Zeit des Beisammensitzens verlief problemlos.

Als ich dann an der Tür stand und mitbekam, dass das Mädchen meine Hand hielt und mich so wundervoll anlächelte, hinterfragte ich sofort wieder meine Gedanken und Gefühle. Diese Lage hätte für mich sehr unangenehm werden können. An ein Verlassen der Situation war nicht zu denken, ohne das Mädchen und seine Mutter mit riesigen Fragezeichen zurückzulassen und mich bis auf die Knochen zu blamieren. Hätte ich in diesen Momenten, an der Tür oder auf dem Bahnsteig, etwas verspürt, was unangemessen gewesen wäre, oder wofür ich mich hätte schämen müssen, dann hätte ich nur die Möglichkeit gehabt, diese Gedanken und Gefühle zu bekämpfen. Entweder mit positiven bzw. negativen, nicht sexuellen Assoziation, oder, indem ich beginne, in Gedanken ein Lied zu singen. In späteren Situationen hat sich für mich z.B. das Lied „So leb dein Leben“ gesungen von Nana Mouskouri tatsächlich sehr bewährt:

Mein Freund- einmal da fällt
Doch auch für dich
Der letzte Vorhang
Du gehst- von dieser Welt
Und dann- kommst du
An jenem- Tor an
Du weißt,-dein Lebensweg
War manchmal krumm
Und manchmal eben
Dass du- dann gradsteh'n kannst
So leb' dein Leben…“

Zum Glück verspürte ich in diesen Momenten nur tiefe Freude und unendliche Dankbarkeit. Darüber hinaus war ich so sehr darauf konzentriert, angemessen aus dieser schönen Geschichte heraus zu kommen, dass da nichts war, was ich in diesen Situationen hätte bekämpfen wollen oder gar müssen. Es war einfach nur bezaubernd...

Ich verdanke dem Projekt „Dunkelfeld“ und seinen Mitarbeitern sehr viel. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte mir jemand zu, als ich über Dinge sprach, die ich außerhalb dieser Wände niemandem anvertrauen könnte. Zum ersten Mal zeigte jemand Verständnis für meine Situation, behandelten mich fremde Menschen mit Freundlichkeit, Achtung und Respekt, trotz des Wissens um meine Gefühle und Gedanken. Ich hatte Gelegenheit, andere Menschen kennen zu lernen, die mit denselben oder zumindest ähnlichen Emotionen, Problemen, Ängsten zu kämpfen haben wie ich. Dieses Gefühl, das Wissen: „Du bist nicht allein!“ tut so gut.

Ich habe meine Selbstachtung und meine Würde wieder gefunden. Tief vergraben unter jeder Menge Selbsthass, Verzweiflung, Selbstmordgedanken und der Angst davor, irgendwann zu einem Täter werden zu „müssen“. Ich weiß jetzt, dass ich in jedem Fall nur das tun werde, was ich tun will. Ich habe die Möglichkeit zur Kontrolle. Mein Recht und meine Pflicht ist es, sie zu nutzen! Ich liebe Mädchen, mehr als mir lieb ist. Und was man liebt, das zerstört man nicht! Da ich also ihnen nicht schaden will, werde ich ihnen auch nicht schaden!

Die Empathie-Übungen, das Hineinversetzen in die kindliche Sichtweise, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass die eigene Erwachsenensicht und die eigenen Wünsche mit der kindlichen Sicht und den kindlichen Bedürfnissen so gar nichts gemein haben, auch das ist sehr hilfreich. Der Satz: „Niemand ist verantwortlich, für seine Gedanken und Gefühle- aber jeder ist verantwortlich für sein reales Handeln.“ war für mich längere Zeit nur rational gesehen ein korrekter Satz. Die Therapie war für mich sehr hilfreich dabei, die Richtigkeit dieses Satzes nun auch zu fühlen, ihn zu meiner emotionalen Lebensmaxime zu machen. Mich selbst, trotz dieser Gefühle und Gedanken, als achtenswerten, vollwertigen Menschen anzunehmen. Es wird immer wieder mal Tiefs geben, Traurigkeit, Tränen, Einsamkeit. Aber ich bin gut gerüstet, diese Herausforderungen anzunehmen, natürlich auch mit Hilfe der Nachsorgetermine.

Mit Hilfe der Therapie, habe ich mir einen neuen Liebesbegriff erarbeitet, bzw. erweitert, und bin dabei, ihn weitest möglich in mein Denken und Fühlen zu integrieren. Ich beschreibe ihn für mich derzeit wie folgt: Es gibt Konstellationen im Leben, in denen ist es der vollkommenste, edelste, ehrenhafteste und somit schönste Liebesbeweis, dessen ein Mensch fähig ist, auf die Realisierung der sexualisierten Liebe, in allen ihren Formen, zu verzichten. Somit mache ich es mir zu einer „Frage der Ehre“, zur Freude und Herausforderung, dieses schwere Bündel mit Würde zu tragen, welches mir das Leben aufgebürdet hat.

Ich habe Klarheit gefunden, über mich und meine Situation. Weiß, dass es Ziele in meinem Leben gab, die in Anbetracht dieser Diagnose für mich unerreichbar sind. Ich habe begonnen, meine Ziele neu zu sortieren. Weiß jetzt, dass vieles in meinem Leben in alternativen Bahnen laufen MUSS, will ich keinem Kind schaden, mir selbst beim Rasieren in die Augen schauen, nicht ins Gefängnis gehen müssen und ein, wenigstens halbwegs, erfülltes Leben führen.

Eine Partnerschaft mit einer Frau würde niemals so vollwertig sein, wie es „normal“ wäre. Wenn sie denn überhaupt möglich ist. Ich könnte einer Frau sicherlich Einiges bieten. Aber leider niemals eine derartig tief empfundene Liebe, wie ich sie so gerne empfinden würde. Das Ausleben meiner Sexualität erlaube ich mir nur in dem Maße, in dem es unschädlich und legal ist, sich um lebloses Papier und Phantasie; oder um Frauen dreht, für welche ich aber nur vergleichsweise wenig empfinden kann. Eine erfüllende Sexualität sieht definitiv anders aus. Und meine Lebensziele haben sich so ziemlich in Luft aufgelöst. Einen Baum habe ich bereits gepflanzt, eigene Kinder schließe ich für mich aus und eine Frau heiraten ist eher unwahrscheinlich. Wozu sollte ich da ein Haus bauen? Auch hier bin ich letztlich also auf Alternativen angewiesen. All dies macht mich sehr traurig. Aber es ist besser, der Wahrheit ins Antlitz zu schauen, als unerreichbaren Luftschlössern nachzujagen!

Auch, wenn das jetzt klingen mag wie aus einem billigen Groschenroman: Fakt ist, einige Monate nach diesem Erlebnis, bin ich Onkel geworden- von einem Mädchen! Und genau zu dieser Zeit, da dieses kleine Wunder geschah, saß ich mit acht anderen Mitstreitern (einer war inzwischen abgesprungen) und zwei Therapeuten im Kreis. In einem kleinen, karg eingerichteten, weißen Raum erwarb ich mir das Wissen und die Fähigkeiten, die nötig sind, um dieses kleine Wesen vor diesem Dämon zu schützen, der in mir tobt. Wie gesagt, ich habe diesem Projekt und seinen Mitarbeitern sehr viel zu verdanken! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.

© 2009 NewMan

aktualisiert: 30.04.2011