Montag, 22.10.2018

„Ich steh auf Sechsjährige“


von Marco


26. Januar 2008:
Als das Therapieprojekt „Kein Täter werden“ der Berliner Charité im Jahr 2004 seine Arbeit aufnahm, war der Andrang der Medien groß: Ein präventives Therapieprojekt für pädophile Männer, dazu noch mit viel Öffentlichkeitswerbung – so etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben. Es war der absolute Pioniercharakter dieses Projekts, der ihm die öffentliche Aufmerksamkeit sicherte.

Inzwischen sind mehr als drei Jahre vergangen, in denen es so etwas wie eine kleine Revolution in der Pädophilie-Berichterstattung gab. Vor dem Aufkommen des Charité-Projekt herrschte selbst in seriösen Nachrichtenblättern das Klischee vom Pädophilen als düsterem Triebtäter vor, der hinter Bäumen und Büschen lauert. Dank der Charité wurde vielen Journalisten (und damit der Öffentlichkeit) erstmals bewusst, dass es auch zahlreiche Pädophilie gibt, die unter ihrer Neigung leiden und den Wunsch nach Hilfe verspüren. Inzwischen gab es unzählige Zeitungsartikel und auch Fernsehreportagen über das Charité-Projekt. Ärzte und Therapeuten kamen zu Wort, von denen insbesondere Prof. Beier ein angesehener und gern zitierter Gesprächspartner war. Auch die Patienten wurden interviewt, berichteten von ihrer Scham und ihrem Leidensdruck. Ganz nebenbei wurden die Leser mit Fakten konfrontiert, von denen die meisten wohl noch nie etwas gehört hatten. Welcher „Normalbürger“ wusste schon, dass rund 1% aller erwachsenen Männer sich ausschließlich zu Kindern hingezogen fühlt – oder dass eine pädophilie Neigung noch lange nicht zum sexuellen Missbrauch führen muss? Hier ist es auch den Journalisten zu verdanken, dass sie im Zuge ihrer Berichterstattung wichtige Aufklärungsarbeit geleistet haben.

Ihren Pioniercharakter haben diese Berichte längst verloren, dennoch stößt die Arbeit der Charité bei den Journalisten immer noch auf reges Interesse. Die Art der Berichterstattung ist im Großen und Ganzen recht positiv, denn die meisten Artikel sind erfreulich sachlich, wenig reißerisch und bemühen sich um eine halbwegs neutrale Position. Es gibt aber auch Berichte, die – aus unterschiedlichen Gründen – von eher fragwürdiger Qualität sind. In der Online-Ausgabe der „Zeit“ gab es Mitte Januar einen Artikel, der bei mir wieder einmal einen sehr zwiespältigen Eindruck hinterließ. Er erschien am 10. Januar 2008 unter dem Titel:

„Ich steh auf Sechsjährige

Dieser Artikel hat ganz ohne Frage seine Stärken. Der Redakteur hat umfassend recherchiert und macht insgesamt einen gut informierten Eindruck. Er bemüht sich, das Thema von allen Seiten zu beleuchten und möglichst viele Hintergründe aufzuzeigen. Auch Kritiker kommen zu Wort, die in dem Projekt lediglich eine inakzeptable Geldverschwendung auf Kosten der Opfer sehen. Man kann von diesen Einwänden halten, was man will, aber wenigstens werden die Für- und Gegenargumente fair gegeneinander abgewogen. Ebenfalls positiv: Der Redakteur wartet mit umfassendem Zahlenmaterial auf, z. B. zur Rückfallquote von Sexualstraftätern oder zum Bildungsstand der Charité-Patienten. Solche Hintergrundfakten findet man längst nicht in jedem Artikel, verlangen sie doch dem Redakteur eine gründliche Vorbereitung ab, die im heutigen Journalistenstress bestimmt nicht immer möglich ist.

Der Artikel hat drei Hauptprotagonisten und lässt neben einem Therapieteilnehmer gleich zwei Fachleute zu Wort kommen: Neben Prof. Beier als erfahrenen Interviewprofi erzählt auch Dipl.-Psychologin Janina Neutze aus ihrem dem therapeutischen Alltag mit pädophilen Patienten. Sehr eingehend werden die Schwierigkeiten geschildert, die es im Laufe der Therapie zu überwinden gilt, etwa die so genannten „kognitiven Verzerrungen“, die durch zahlreiche Beispiele aus dem Therapiealltag sehr anschaulich erklärt werden. Insgesamt handelt es sich deshalb einen empfehlenswerten Artikel, allein schon wegen seiner interessanten Anekdoten aus dem Therapiealltag, die man noch nirgendwo anders zu lesen bekam.

Auf der anderen Seite gibt es auch einige Dinge, die mir eindeutig negativ aufgefallen sind. Das mit Abstand Störendste ist die unsägliche Strichmännchen-Grafik gleich auf der ersten Seite. Hier wird mal wieder auf das längst überstrapazierte Klischee vom „bösen Kinderfänger“ gesetzt, der die Kinder gewaltsam von der Straße entführt. Mit solchen Darstellungen werden beim uninformierten Leser nur unnötige Ängste geschürt, die eine sachliche Auseinandersetzung von vornherein erschweren. Da frage ich mich: Warum greift man selbst in seriösen Medien immer wieder auf solche Mittel zurück, nur um Aufmerksamkeit zu erzeugen? Ich meine, ein qualitativ guter Artikel spricht für sich und sollte es nicht nötig haben, auf derartige Effekte zurückzugreifen. Auch die Charité selbst präsentiert sich nicht immer von ihrer besten Seite. So wird Therapeutin Neutze mit den Worten zitiert:

Eine simple Grundregel müsse daher jeder Pädophile beherzigen, sagt Neutze: ´Nie ohne soziale Kontrolle mit einem Kind allein sein´“.

Auch dieser Satz hat mich gestört, denn übersetzt ins Umgangsdeutsch bedeutet er: Als Pädophiler braucht man einen ständigen „Aufpasser“ an seiner Seite, ansonsten kann man jederzeit die Kontrolle über sich und sein Verhalten verlieren. Ein ungeheuerlicher Vorwurf, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss! Natürlich gibt es genügend Pädophile, bei denen die eigene Verhaltenskontrolle nicht funktioniert, aber mit ihren Worten spricht Frau Neutze aber ein generelles Misstrauensvotum gegen alle Pädophilen aus, das in dieser Verallgemeinerung zu weit geht. Gar keine Frage: Für jemanden, den ich nicht kenne, würde ich auch nicht die Hand ins Feuer legen, aber ich kenne durchaus einige Leute, die ich guten Gewissens mit einem Kind allein lassen würde. Man darf Pädophile nicht allesamt als unkontrollierbare Triebbündel darstellen, damit tut man vielen Betroffenen Unrecht. Ich selbst war zwar noch nie mit einem Kind allein, aber selbst wenn es eines Tages einmal dazu kommen sollte, bin ich mir absolut sicher, dass ich über genügend Kraftreserven verfüge, um meine ethisch-moralischen Grundsätze nicht kurzerhand über Bord zu werfen.

Mit ihren Worten hat Frau Neutze sich zumindest sehr ungeschickt ausgedrückt, denn auch das Therapieziel der Charité zielt ja ausdrücklich darauf ab, eine immer und unter allen Umständen funktionierende Selbstkontrolle zu erlernen. Wenn man diese Möglichkeit von vornherein ausschließt (und stattdessen eine permanente Außenkontrolle für notwendig hält), dann stellt sich mir die Frage, wo dann überhaupt noch das Ziel einer Therapie liegen soll. Genau genommen stellt Frau Neutze ihre eigene Arbeit in Frage, denn eine Verhaltenskontrolle, die nur in Gegenwart anderer Erwachsener funktioniert, ist wertlos. Wer als Pädophiler Zeit seines Lebens auf Kontrolle von außen angewiesen ist, zeigt damit ja nur, dass er sein Problem nicht wirklich bearbeitet hat. Das Ziel muss es immer ein, eine von innen kommende Verhaltenssicherheit aufzubauen, die irgendwann keiner äußeren Kontrolle mehr Bedarf.

Überhaupt werden Pädophile in dem Artikel als wenig berechenbare, ständig vor der Triebexplosion stehende Wesen dargestellt. Sei es durch die Anekdote mit dem herunter gefallenen Schulranzen oder das Beispiel des Mannes, der fluchtartig das Haus verlassen musste, weil er sich nicht mehr beherrschen konnte. Natürlich gibt es solche Fälle, aber man sollte sich sehr genau überlegen, in welchem Kontext man sie präsentiert. Durch die Aneinanderreihung solcher Extrembeispiele muss beim uninformierten Leser zwangsläufig ein sehr einseitiges Bild entstehen nach dem Motto: „Die stehen alle ja kurz vor der Explosion, hoffentlich kommt so einer niemals in die Nähe meiner Kinder!“ Ein solches Bild wird dann schnell auf alle Pädophilen übertragen, obwohl es selbstverständlich auch Pädophile gibt, die ihre Neigung selbst im alltäglichen Umgang mit Kindern sehr gut kontrollieren können, ohne jemals einen Übergriff zu begehen.

Ich sehe natürlich auch das Dilemma, in dem die Charité steckt. Durch Fallbeispiele von Pädophilen, die ihre Sexualität gut unter Kontrolle haben, wird man die Öffentlichkeit kaum von der Notwendigkeit solcher Therapieprojekte überzeugen können. Deshalb ist es sicher unumgänglich, immer wieder zu betonen, wie zugespitzt die Lage in vielen Fällen ist und wie viel Unheil man durch eine rechtzeitig einsetzende Therapie verhindern kann. Trotzdem gibt es immer zwei Seiten: Der Pädophile, der seine Sexualität sehr gut kontrollieren kann und derjenige, der auf Hilfe von außen angewiesen ist. Nur wenn man beide Seiten zeigt, wird man der Wirklichkeit gerecht. Die Charité als führendes Forschungsinstitut hat dieser Hinsicht eine enorme Verantwortung und sollte ganz besonders auf eine ausgewogene, nicht zu einseitige Darstellung achten. Bisher ist ihr das immer gut gelungen; im vorliegenden Artikel ist jedoch die Auswahl der Beispiele und insbesondere die Wortwahl von Frau Neutze ein wenig unglücklich, was aber hoffentlich die Ausnahme bleiben wird.

aktualisiert: 30.04.2011