Montag, 22.10.2018

Tatort: „Verdammt“


von Marco

28. Januar 2008: Der Themenbereich Pädophilie und sexueller Missbrauch ist auf der Krimi-Ebene nahezu unerschöpflich. So wundert es nicht, dass auch die beliebte Krimi-Reihe „Tatort“ aus der ARD dieses Thema immer wieder aufgreift. Am Sonntag, dem 27. Januar 2008 hatten es die beiden WDR-Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrend) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) ganz offensichtlich mit einem Rachemord zu tun: In einem Müllcontainer wird die Leiche des pädophilen Kindermörders Paul Keller (Thomas Arnold) gefunden. Keller wurde gerade erst aus der Haft entlassen, nachdem er 12 Jahre abgesessen hatte – wegen des Sexualmordes an einem 8 Jahre alten Jungen.

Die Ermittlungen konzentrieren sich zunächst auf Stefan Maywald (Bernhard Schütz), den Vater des damals 8-jährigen Jungen, der heute als „Pädo-Jäger“ aktiv ist und dazu den umstrittenen Verein „Child Protection“ gegründet hat. Aber auch die Eltern und der Bruder von Paul Keller geraten ins Visier der Ermittler, denn mit einem „perversen Kindermörder“ will man in der Familie nichts mehr zu tun haben. Dann gibt es da noch Daniel Günter (Martin Kiefer), selbst ein ehemaliges Missbrauchsopfer, der von Maywald als „verdeckter Ermittler“ in die Pädophilen-Szene geschickt wurde. Doch das Ermitteln ist Aufgabe der beiden Kommissare, und die bekommen es dabei mit unterschiedlichen Milieus zu tun. Der fanatische Kinderschutzverein „Child Protection“ gehört genauso dazu wie die Abgründe der Kölner Pädophilen-Szene oder die Familie des Mordopfers, die selbst ihre gesamte Existenz verloren hat. Diese typischen Milieus wurden durchaus realistisch dargestellt. Sehr gelungen vor allem die Figur des Kinderporno-Filmers Manfred Krüger (Hans-Jochen Wagner), der mich an bestimmte Personen aus dem Girllover-Forum erinnert. Seine verschrobenen Rechtfertigungsversuche („Wir werden verfolgt wie damals die Juden!“) sind haargenau die gleichen, wie man sie tatsächlich in den Pädo-Foren findet.

Sehr gekonnt auch die Charakterisierung des starrköpfigen Kinderschutzfanatikers mit seiner öffentlichen Prangerliste und der hektischen Steckbriefaktion. Ganz so weit sind wir zwar in der Realität noch nicht, aber dieses Vorgehen entspricht genau dem, was einige fanatische Kinderschützer fordern. Glücklicherweise werden genau diese Praktiken scharf kritisiert. So wird „Child Protection“ als ein Verein dargestellt, der selbst nicht sonderlich verantwortungsvoll mit Opfern umgeht, indem er sie als verdeckte Ermittler einsetzt und sie damit – wie Kommissar Ballauf ganz richtig erkennt – ein zweites Mal missbraucht. Inwieweit es solche Praktiken tatsächlich gibt, kann ich nicht beurteilen, aber der fiktive Kinderschutzverein ist kein bloßes Hirngespinst der Drehbuchautoren. In der „Kinderschützer-Szene“ gibt einige dieser schwarzen Schafe, die mit fragwürdigen und extrem populistischen Methoden agieren.

Die Autoren haben sich zweifelsohne informiert, sonst hätten sie diese realitätsnahen Charaktere nicht erschaffen können. Allzu gekünstelt wirkt lediglich Figur des Gefängnis-Psychologen, der die Kommissare im altväterlichen Psychiater-Stil über „sexuelle Präferenzstörungen“ aufklärt. Dafür stellt er einen wichtigen Gegenpol zu den Hardlinern dar, wenngleich diese Gegensätze sehr schablonenhaft überzeichnet sind, aber das ist eben typisch Krimi. Ein wenig unglücklich auch, dass man ausgerechnet den Vater des einst ermordeten Jungen zum Vorsitzenden von „Child Protection“ gemacht hat. Damit wollte wohl zeigen, dass Opfer und deren Hinterbliebene sich in ihrer Hilflosigkeit manchmal nicht anders zu helfen wissen, als sich in einen völlig irrationalen Aktivismus zu flüchten, auch wenn damit niemandem geholfen ist – am wenigsten den Opfern.

Es war ein spannender Krimi ohne längere Durchhänger, der sich durchaus bemühte, dem Thema gerecht zu werden. Mitunter wurden sogar Präventionstipps eingestreut („Eltern warnen ihre Kinder zwar vor dem schwarzen Mann, nicht aber vor der Hausaufgabenhilfe!“). Selbst Ballauf gibt seinem Kollegen in einer nachdenklichen Minute den besonnenen Rat: „Mach deine Enkelin lieber stark, damit sie sich wehren kann!“. Insofern mag der Film durchaus das eine oder andere Elternpaar angeregt haben, sich näher damit zu beschäftigen, wie sie ihre Kinder schützen können. Das vielleicht wichtigste Plus: Jede Form von Selbstjustiz wird klar verurteilt, sei das dahinter stehende Motiv („Es geht um die Opfer!“) auch noch so edel. Weiterer Pluspunkt: Es werden keine einfachen Lösungen propagiert, aber viele wichtige Fragen gestellt („Was würdest du denn mit solchen Leuten machen?“).

Am Ende wird nicht nur der Mord an Paul Keller aufgeklärt, sondern es gibt noch eine viel überraschendere Wende: Nicht der Pädophile Paul Keller hat damals den 8-Jährigen Kevin getötet, sondern der seinerzeit 13-Jährige Daniel Günter, der ebenfalls mit Keller befreundet war und mit ansehen musste, wie Keller sich mehr und mehr für den 8-Jährigen „Nebenbuhler“ interessierte als für ihn, der so langsam in die Pubertät kam. Mord unter zwei Jungen aus Eifersucht um die Gunst eines pädophilen Verehrers – durchaus denkbar, aber reichlich überzogen. Als Pädophiler mochte man diese Auflösung mit Erleichterung zu Kenntnis genommen haben, hatte sich doch das Leitbild vom Pädophilen als skrupellosem Kindermörder ganz urplötzlich wieder zerschlagen. Aber andererseits: Hat Keller den Jungen nicht indirekt doch auf dem Gewissen? Schließlich war er es, der den damals strafunmündigen Täter überhaupt erst in eine Lage brachte, aus der er sich vor lauter Ausweglosigkeit nicht anders zu helfen wusste. Damit haben die Autoren ein Problem herausgearbeitet, dass in allen pädophilen Beziehungen früher oder später zum Tragen kommt: Das Kind wird älter und verliert seine kindlichen Körperzüge. Der Pädophile verliert daraufhin sein Interesse und beendet die Beziehung. Das Kind, das oftmals noch sehr an seiner Bezugsperson hängt, fühlt sich verlassen, verraten, betrogen und weggeworfen – und wird damit noch einmal auf besonders nachhaltige Weise gedemütigt.

All diese realistischen Elemente sind lobenswert, aber trotzdem: Von einer differenzierten Darstellung ist der Film meilenweit entfernt. Die Pädophilen, das sind in diesem Krimi ausschließlich die kranken, skrupellosen Kinderschänder, ohne jede Einsicht und ohne Schuldbewusstsein. Da durfte selbst die Anspielung auf die holländische NVP mit ihren abstrusen Forderungen nicht fehlen. Über Präventionsprojekte nach dem Muster der Charité wird dagegen kein einziges Wort verloren. Kein Wort darüber, das hier langfristig die einzige Chance liegt, das Problem in den Griff zu bekommen. Kein Sterbenswörtchen auch darüber, dass eine pädophile Ausrichtung nicht zwangsläufig zum sexuellen Missbrauch führen muss, oder dass es sogar pädophile Männer gibt, die sich freiwillig behandeln lassen und gar nicht zum Täter werden wollen. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass rund 1% aller Männer solche Neigungen haben, aber dass es sich hierbei lediglich um eine Präferenz und nicht um einen Tatimpuls handelt, darüber erfährt der Zuschauer nichts.

Dass es auch anders geht, bewies vor gar nicht langer Zeit Der Kinderfreund, der letztes Jahr in der ARD lief und das Thema wesentlich differenzierter behandelte. Wenn man will, dann kann also nicht nur in Dokumentationen, sondern auch in Spielfilmen einiges an inhaltlichen Aussagen vermitteln. Andererseits: Der „Tatort“ als Krimi ist darauf angelegt, den Zuschauer durch Spannung und Action unterhalten, da darf man die inhaltlichen Erwartungen nicht allzu hoch hängen. Das Gesamturteil ist deshalb ernüchternd: Für einen Krimi war es eine brauchbare Story, aber wer sich ernsthaft über Pädophilie informieren will, sollte lieber auf andere Formate ausweichen, z. B. auf die profilierte 37°-Reihe im ZDF oder auf Manfred Karremanns hervorragendes Buch „Es geschieht am hellichten Tag“.

aktualisiert: 24.05.2011