Montag, 22.10.2018

This is love


von Gabriel


16. Januar 2010:
 „Das ist Liebe!“ proklamiert der Titel des neuen Dramas von Matthias Glasner. „Das soll Liebe sein?“ wird sich der Zuschauer während und nach der Filmvorführung fragen. Und dies zu Recht: Glasners Film ist so anders als all die Lieder auf die Liebe, die uns das romantische Kino gewöhnlich singt. Eigentlich handelt es sich bei näherer Betrachtung um einen Anti-Liebesfilm, denn der Regisseur erzählt uns die Geschichten zweier Menschen, die an der Liebe scheitern bzw. scheitern müssen.

Da ist zum einen die Kommissarin Maggie (eine umwerfende Corinna Harfouch), die von ihrem Mann verlassen wurde und ihren noch immer vorhandenen Kummer ob der Trennung im Alkohol ertränkt. Und da ist Chris (ein sehr menschlicher Jens Albinus), der mit seinem Kumpel Holger (Jürgen Vogel) Kinder aus vietnamesischen Bordells befreit, um sie in Deutschland illegal an kinderlose Paare zu verkaufen.Diese beiden scheinbar voneinander unabhängigen Lebenswelten bringt der Regisseur kunstvoll zusammen, in dem er Chris unter Mordverdacht stehend und nach einem Suizidversuch in Maggies Verhörraum sitzen lässt.

In Rückblenden offenbart sich die verstörende Geschichte: Ursprünglich hatte Chris vor, die neunjährige Jenjira (sehr talentiert: Lisa Nguyen), die er vor kurzem aus der Kinderprostitution gerettet hat, an ein deutsches Paar zu verkaufen, das jedoch plötzlich abspringt. Um sie nicht zurück zu ihrem Zuhälter zu schicken, entschließt er sich kurzerhand, Jenjira zu behalten und selbst großzuziehen. Eigentlich eine gute Absicht, denkt sich der Zuschauer zunächst, bis er nach und nach merkt, dass der wortkarge Deutschdäne mit dem traurigen Blick eine verhängnisvolle Neigung unterdrückt: er ist pädophil! Glasners großer Verdienst ist es, dass er sich des Themas ohne moralische Vorverurteilung annimmt, seine Geschichte mit großer Sensibilität für menschliche Angründe erzählt. Am Ende ist es der Zuschauer, dem ein Urteil abverlangt wird.

In den anrührendsten Momenten des Films begleiten wir den Mann und das Mädchen durch den Alltag, erleben sie beim Einkaufen, einem Cafe-Besuch und schließlich beim abendlichen Fernsehen auf der Couch – ein scheinbares Vater-Tochter-Idyll, das immer wieder durch Chris` sehnsüchtigen, tieftraurigen Gesichtsausdruck gebrochen wird. Bezeichnend für die Botschaft des Films sind die im Folgenden aufgeführten Schlüsselszenen: Der Zuschauer erfährt, dass Jenjira sehr wohl weiß, wie ihr Beschützer empfindet, da sie ihn mit ihrem einsetzenden Brustwachstum konfrontiert: „Du wirst nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, wenn ich älter werde“, heißt es sinngemäß, „so ist es einer Freundin in Vietnam auch ergangen.“ Beim sich anschließenden Gute-Nacht-Ritual möchte er sie auf die Wange küssen, sie aber wendet ihm plötzlich frontal das Gesicht zu, wie es gewöhnlich Liebende zum Kuss auf den Mund tun. Chris schreckt zurück, haucht ein flüchtiges „Gute Nacht“ und geht. Handelt so ein Monster, das nur auf sexuellen Kontakt aus ist? Hätte nicht der Klischee-Pädophile diese Situation ausgenutzt?

Überhaupt spielt der Film „This is Love“ mit Zuschauererwartungen und vermeintlichen Klischees, indem er Chris nach und nach zur Identifikationsfigur ausbaut, zum eigentlichen Sympathieträger. Indem er eben nicht Chris, sondern seinen heterosexuellen Freund Holger das Mädchen missbrauchen lässt. Und indem er einer Neunjährigen Gefühle zuspricht, die diese nach Meinung der breiten Öffentlichkeit gar nicht haben dürfte. Holger drückt es in einer der drastischsten Wortwechsel des Films so aus: „Die ist kaputt, die ist fertig! Ja, die sieht ganz süß aus, aber das ist ne Nutte, Mann! Die lutscht Schwänze!“ Tatsächlich müssen die grausamen Missbrauchserfahrungen in ihrer Heimat das Mädchen nachhaltig geprägt haben, es in einer Weise sexualisiert haben, die noch nicht altersgemäß ist. Es wird auf eindringliche Weise deutlich, dass dieses Kind nach Liebe und Geborgenheit sucht, diese aber zuweilen mit Sexualität verwechselt. Anders hat es das tragischerweise nicht gelernt. Es wird zur Verführerin. Ein unerhörter Rollentausch, so scheint es, der aber vor dem Hintergrund der Erlebnisse nachzuvollziehen ist.

Bedrückend wird es, wenn Chris, der hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch ist, Gutes zu tun, und der erotischen Attraktion und der Zuwendung, die von Jenjira für ihn ausgeht, diese anschreit: „Was willst du?“ – „Ich will dich!“, lautet die beklemmende Antwort. Darf es eine pädophile Liebesbeziehung geben? Und darf man so etwas zeigen? Das ist die Frage, die dem Zuschauer an dieser Stelle zwangsläufig im Kopf herumspukt. Aber das ist nicht die Frage, die der Film tatsächlich aufwirft. Glasner will durch seine Darstellung weder provozieren, noch revolutionieren, schon gar nicht auf naive Weise beschönigen. „This is Love“ ist kein Film über eine pädophile Liebesbeziehung! Der Regisseur ist nach eigenem Bekunden angetreten, um zu zeigen, wie Menschen an der Liebe zerbrechen, was das für Gefühle auslöst, und wie es sie verformt und Dinge aus ihnen herausholt, die sie gar nicht sehen wollen. Dazu gehört genauso die Geschichte der depressiven, saufenden Kommissarin, die ihren Mann betrogen hat und schließlich von diesem verlassen wurde. Auch hiervon erfahren wir in den Rückblicken des Polizeiverhörs schließlich. Nur: Die von Corinna Harfouch gespielte Figur hätte eine Wahl gehabt. Sie hat durch ein kurzes sexuelles Vergnügen, einen für sie belanglosen Seitensprung mit ihrem Kollegen, selbst zur Zerstörung ihrer Liebe beigetragen. Chris hat diese Wahl nicht. Für seine Liebesempfindungen gibt es keine Absolution, ein Scheitern ist hier im Prinzip immer vorprogrammiert.

Am Ende kommt es zum erneuten Schockerlebnis für den Kinobesucher, dessen Ursache hier aber aus Gründen der Spannungserhaltung nicht ausgebreitet werden soll. Schließlich ist demnächst auch eine DVD-Veröffentlichung geplant. Verraten sei nur dieses: Ein Happyend bleibt wie im wahren Leben aus, der Zuschauer wird erneut auf eine harte Probe gestellt, wenn es um die Identifikation mit dem männlichen Protagonisten geht.

Fazit: Eine mutige, glänzend gespielte und inszenierte Produktion, die gewiss zum Nachdenken anregt, die gewiss das Potential hat, eine Kontroverse auszulösen, der aber vor allem ein bemerkenswertes Kunststück gelingt: Pädophile nicht pauschal alle als gefühl- und gewissenlose Sexbestien zu stilisieren, sondern sie als fühlende Menschen mit einer ihnen eigenen Tragik zu präsentieren, die auch in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen – und die genauso wie andere Menschen, meist aber eben doch viel schlimmer, auf der Suche nach Liebe zerbrechen müssen.

aktualisiert: 30.04.2011