Montag, 22.10.2018

Fee – „Operation Zucker“

 

Am 16.01.2013 lief der Film „Operation Zucker“ in der ARD.

Die Ziele der Macher dieses Filmes sind klar definiert: schocken, aufrütteln, informieren.
Das Schocken hat schon mal funktioniert.

Ob das Aufrütteln gelungen ist, werden die nächsten Monate zeigen. Wird es Bewegung geben? Protest, Unruhe? Oder bleibt alles beim Alten? Schön ruhig, gediegen, wie es schon immer war?
Schließlich wurden die realen Vorbilder der Kommissarin und der Staatsanwältin nach diesem Fall ja auch auseinandergesetzt. Eine gängige Praxis im Umgang mit Störenfrieden… „Never change a running system“. Aber nur, wenn Du willst, dass es erfolgreich arbeitet…?

Und das Informieren? Vielen Unbedarften wird es neu gewesen sein, dass ausgerechnet die Bundeshauptstadt Berlin, der Hauptsitz unserer Demokratie, der Sitz von Bundestag, Bundesrat und des Bundespräsidenten, der Hauptumschlagplatz für Kinder ist.
Dass Menschen, die den Kindern helfen wollen, oft alleine stehen. Nicht nur NICHT unterstützt werden, sondern permanent gegen Wände laufen…

Ansonsten bedient man sich im Film leider permanent der gängigen Sprache und Vorurteile in Bezug auf das Thema Pädophilie – reaktiviert sie damit, bestätigt sie, verankert sie einmal mehr in den Köpfen vieler unkundiger Zuschauer und -hörer.
Der Ausspruch: „Ihr guter Freund mag es jung“ wird zum Inbegriff von: „Ihr guter Freund missbraucht Kinder.“
En passant erfährt man, dass es ca. 200 000 Pädophile in Deutschland gibt, was im Kontext bedeutet: „Es gibt ca. 200 000 reale Täter.“ Was leider eine ziemliche Untertreibung ist.
Es ist von der „Pädophilenszene“ die Rede.
Die Pädophilen bezeichnen angeblich laut Film allesamt pubertierende Kinder als „hormonell verseucht“.
Der Täter, der Bran brutal schlägt und bis zur Bewusstlosigkeit würgt, geht im Film als Pädophiler durch, obwohl er mit größter Wahrscheinlichkeit ein Ersatzhandlungstäter, vielleicht sogar ein antisozialer Ersatzhandlungstäter ist…

Doch keine der Aussagen wird hinterfragt, oder wenigstens relativiert. Mit keinem Satz und keinem Zwischensatz. In diesem Film geht es nicht um die Täter und nicht um Pädophile, sondern um die Opfer von Menschenhandel, Kinderprostitution und Missbrauch. Schon klar. Dennoch wäre mancher relativierende Satz sinnvoll und wichtig gewesen, ohne groß die Handlung zu stören. Schon alleine, um dem Anspruch des Informierens gerecht zu werden.

Wenn dieser Film eine Schwachstelle hat, dann ist es das permanente Kommunizieren der Gleichsetzung von Pädophilie und sexuellem Kindesmissbrauch, Kriminalität, sogar beinahe Mord. Die Gleichsetzung von Veranlagung und Verhalten.
Diese Schwachstelle wurde des Öfteren auch in der nachfolgenden einstündigen Chat-Diskussion thematisiert. Ungefähr genau so oft, wie das Fehlen einer anschließenden Expertendiskussion.

Darüber hinaus ist dieser Film ein recht großer Wurf, nimmt den Zuschauer mit, von Anfang an.

Eines seiner Stilmittel ist der häufige Tempowechsel. Extrem langatmige Szenen wechseln extrem kurze ab. DAS NERVT!!
Und doch wird der Zuschauer gerade auf diese Weise ein Stück weit in der Erlebniswelt eines Opfers gefesselt. Langatmige, langweilige Szenen wechseln permanent wichtige, entscheidende Szenen ab, die wie ein Blitzlichtgewitter vorbei ziehen, nach denen nichts mehr so ist, wie zuvor.

Der Film beginnt irgendwo in Rumänien, wo Fee einen Braunbären füttert und mit ihrem Bruder im Schnee spielt. Ein armes, aber behütetes Leben.
Von dem Augenblick an, in dem die Eltern einen „offiziellen Erziehungsvertrag“ „mit Deutschland“ abschließen, bis Fee sich in ihrem Engelskostüm auf einer Bühne wieder findet und gebeten wird sich mal eben um die eigene Achse zu drehen, vergehen im Film drei Minuten. Die Bühnenszene selbst dauert noch nicht mal eine. Und doch wird sie gerade in diesem Moment wie ein Rennpferd oder ein antiker Stuhl ver- und ersteigert.

Nach einer langatmigen Verbringungszene liegt Fee in ihrem roten Kleidchen, wie eine Puppe drapiert auf einem Bett. Ein angeregt, aufgeregt summender Mann geht am Klimpervorhang vorbei und schließlich auf Fee zu, sein blendend weißes Handtuch verbirgt noch seine „Primärwaffe“.– Und dann geht er wieder, so gut gelaunt, wie er kam. Auch dieses Blitzlicht dauert keine Minute. Und brachte mich doch in ein Wechselbad der Gefühle, wie es wohl weit weniger als ein Prozent der Zuschauer überhaupt nachvollziehen können dürften.
In einem Moment siehst Du als heteropädophiler Mann dieses niedliche Mädchen mit seinem unglaublich süßen roten Kleidchen auf dem Bett liegen – und im nächsten Moment bist du versucht, durch den Bildschirm hindurch, diesem summenden Typen in seinem weißen Handtuch ins Kreuz zu springen, um zu verhindern, was noch zu verhindern ist…

Dann kommt die ausführliche Joggingszene der Kommissarin, in der sie allerdings nebenher Dinge sieht, die noch wichtig sein werden.

Oder die langen Szenen, in denen die Selbstjustiz von Bran an seinem Peiniger, dem zukünftigen ranghohen Politiker Kurt Wagner, geradezu zelebriert wird.
An dieser Stelle fragte ich mich allerdings schon, was sollt damit gesagt werden? Soll dem Versagen unserer gesellschaftlichen Systeme in Wirtschaft, Politik und Justiz allen Ernstes nicht etwa Erneuerung und frischer Wind, sondern Selbstjustiz und Anarchie entgegengestellt werden?
Natürlich trägt die Gesellschaft die Verantwortung, die Kinder vor körperlichen und seelischen Schäden zu schützen. Aber doch auch die Verantwortung, den späteren Erwachsenen eine demokratische, rechtsstaatliche, humanistische, liberale und allgemein lebenswerte und schützenswerte Gesellschaft zu hinterlassen…?

Im weiteren Verlauf häufen sich die Fragezeichen.
Wer genau in diesem politischen und juristischen Betrieb ist eigentlich noch Verbündeter und wer Täter oder korrumpiert? Wer genau ist hier einfach „nur“ feige oder faul? Und wer genau reitet einfach „nur“ Paragraphen? Macht einfach „nur“ seinen Job oder wartet „nur“ noch auf die Pension? Oder aber, wer ist am System resigniert, selbst zerbrochen?
An vielen Nahtstellen dieser gesellschaftlichen Versagenskette bleibt diese entscheidende, quälende Frage unbeantwortet.
Und es dämmert einem, dass das bewusste Unterlassen des Richtigen, nicht viel weniger schlimm ist, als das bewusste Tun des Falschen.
Derjenige, der „nur“ das Richtige bewusst unterlässt, macht sich nicht viel weniger schuldig, wie der Täter! Denn er leistet seinen Beitrag zum Gesamtversagen!!! Das hat gesessen.

Zumal, wenn man es richtig bedenkt, vorausgesetzt, es gibt 200 000 Pädophile in Deutschland, dann hat Deutschland es mit 300 000 realen Tätern zu tun!
Wie ich auf diese Zahl komme?
Unter 200 000 pädophil veranlagten Menschen werden ca 50% mindestens ein Mal zum Täter. Also 100 000 pädophile Täter und 100 000 pädophile Nichttäter.
Ca. 2/3 aller Täter sind Ersatzhandlungstäter. Also 100 000 Pädos+ 200 000 EHT= 300 000 Täter insgesamt. Und es gibt mittlerweile Erhebungen, die davon ausgehen, dass nicht 60% sondern 80% der Täter Ersatzhandlungstäter sind…

Wie auch immer. Bei weitem nicht alle diese Täter sind in einem Täternetzwerk vernetzt und arbeiten in der Politik oder der Justiz. Viele dieser Täter missbrauchen die Kinder im nahen Umfeld. Und andere Täter suchen sich eher Berufe aus, die ihnen den Zugriff auf Kinder sichern.
Was wiederum bedeutet, dass die Anzahl derer, die aktiv, aus krimineller Energie heraus wichtige Entwicklungen und Verfahren in Politik und Justiz sabotieren, kaum so groß sein kann, um das gesamte System derart zu korrumpieren und zu lähmen. Ich finde, die sich aufdrängenden Schlussfolgerungen sind geradezu dramatisch… .

Am Ende werden Fee und ihre Beschützerin ausfindig gemacht und die Kommissarin betäubt.
Sie wacht im Auto wieder auf, bekommt gerade noch machtlos mit, wie Fee in ein anderes Auto verbracht wird, mit ihrem Besitzer davon fährt in eine ungewisse, oder aber eher zu sehr gewisse Zukunft…

Nur ein Täter bleibt mit ihr zurück, schneidet sie vom Auto los zerrt sie raus, zieht seine Waffe und legt an. Es ist nur noch eine Frage, die bleischwer im Raum steht:
Wird er schießen? Oder eher nicht? Er kann doch nicht…
Oder etwa doch?
Man hat das Gefühl selbst im Schnee zu liegen. Eins zu werden mit dem Schicksal der gescheiterten Kommissarin Karin Wegemann.
Wie auch in der „Bettszene“ ein merkwürdiges Erleben, wie in einem 3D-Kino.
Nur ohne Cola und Popcorn.

Ich finde diesen Film auf jeden Fall sehr empfehlenswert.
Ob von ihm in einiger Zeit aber mehr übrig bleiben wird, als ein gewisser, vergehender Schockeffekt, einige Nominierungen oder gar Auszeichnungen, ob er wirklich aufrütteln kann, bleibt abzuwarten.

Vielleicht gelingt es ja aber doch, den einen oder anderen, oder noch mehr, dazu zu animieren, von der vermeintlichen Zuschauerrolle ins reale Handeln zu springen?

NewMan

www.schicksal-und-herausforderung.de

 

 

aktualisiert: 18.03.2013