Montag, 22.10.2018

Es geschieht am hellichten Tag


von Marco


22. Mai 2008:
Der Name Manfred Karremann ist in der Pädophilen-Szene verhasst wie kaum ein anderer. Über viele Jahre lang recherchierte er undercover in der deutchen Pädophilen-Szene. Im Jahr 2003 berichtete er für den „Stern“ in einer dreiteiligen Reportage über seine Eindrücke und Erlebnisse. Karremann lieferte authentische Einblicke aus einer in sich abgeschotteten Szene, die der Öffentlichkeit normalerweise verborgen bleibt. Seine damaligen Enthüllungen zogen polizeiliche Ermittlungen nach sich und hatten u. a. zur Folge, dass zwei bekennende Pädophile zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden – ein schwerer Schlag für diese in sich tief verschworene Szene. So ist es kein Wunder, dass Karremann bis heute mit Beleidigungen, üblen Nachreden und sogar Morddrohungen leben muss.

Voriges Jahr hat Karremann ein Buch über seine damalige Zeit geschrieben. Als Co-Autor konnte er den Psychotherapeuten Jürgen Lemke gewinnen, der in der Berliner Einrichtung „Kind im Zentrum“ mit straffällig gewordenen Pädophilen arbeitet. Lemke schreibt im letzten Kapitel über Therpiemöglichkeiten für pädophil veranlagte Männer und beleuchtet das Problem von der wissenschaftlichen Seite. Ende 2007 erschien das Buch im Dumont-Verlag unter dem Titel:

Es geschieht am hellichten Tag – die verborgene Welt der Pädophilen

Das Buch wurde mit großem Werbeaufwand angekündigt und mit viel Spannung erwartet. Eins war von vornherein klar: Neue Enthüllungen sind nach so vielen Jahren nicht mehr zu erwarten. Im Gegensatz zur „Stern“-Reportage versteht sich das Buch deshalb nicht als chronologischer Erlebnisbericht, sondern als Ratgeber, der über die Tricks und Strategien von Pädophilen aufklärt. Karremann informiert besorgte Eltern, wo ihren Kindern Gefahren drohen und wo nicht. Er räumt auf mit dem Klischee vom düsteren Triebtäter, der hinterm Gebüsch lauert oder Kinder gewaltsam ins Auto zerrt. Karremann weiß es dank seiner jahrelangen Undercover-Ermittlungen besser: Die meisten Pädophilen suchen eine langfristige Bindung zum Kind, schleichen sich auf subtile Weise in dessen Vertrauen ein. Dabei erkennen sie schnell, bei welchen Kindern sie leichtes Spiel haben; nämlich bei den Außenseitern aus schwierigen Verhältnissen, mit denen niemand spielen will, um die sich niemand kümmert, denen keiner zuhört. Solche Kinder sind zutiefst dankbar, wenn sich ihnen einen Erwachsener als „großer Freund“ anbietet. Welche Absicht wirklich dahinter steckt, können die Kinder freilich nicht erkennen.

Es ist praktisch immer das gleiche Spiel: Der Pädophile nutzt das existenzielle Bedürfnis des Kindes nach Aufmerksamkeit und Zuwendung gezielt aus, um sich ein Abhängigkeitsverhältnis zu erschleichen, aus dem heraus es nicht schwer ist, das Kind zu sexuellen Handlungen zu bewegen. Pädophile haben bei Kindern oft nur deshalb eine Chance, weil diese in ihrem Lebensumfeld nicht die Liebe und Zuwendung bekommen, die sie so dringend bräuchten.

 

Die Stärken des Buchs

Die Stärke von Karremanns Buch liegt in seinem Wert als Ratgeber. Seine authentischen Eindrücke aus der Pädophilen-Szene verbindet Karremann mit handfesten Tipps, wie Eltern ihre Kinder schützen oder das Risiko zumindest minimieren können. Die Leser erfährt nicht nur, welche Gefahren in Schwimmbädern lauern, sondern auch, nach welchen Kriterien man einen Nachhilfelehrer oder einen Babysitter aussuchen sollte. Mit anschaulichen Beispielen beschreibt Karremann, wie es in einer „Pädo-Wohngemeinschaft“ zugeht und mit welch ausgeklügelten Tricks sich Pädophile an Kinder heranmachen, noch bevor diese überhaupt merken, was mit ihnen geschieht.

Die Episoden, die Karremann schildert, sind beklemmend und lehrreich zugleich. Da gibt es z. B. Kurt, einen einschlägig vorbestraften Erzieher, der kleine Mädchen in seine Wohnung lockt, um mit ihnen Kinderpornos zu drehen. Ganz spielerisch bringt er sie dazu, sich nackt auszuziehen. Sehr ausführlich wird auch die Geschichte von Konrad erzählt; einem Pädophilen aus Berlin, der schon seit vielen Jahren mit „seinem“ Julius zusammen ist. Mit Billigung der Mutter, die über alles Bescheid weiß, nur nicht über den Sex. Es macht einen regelrecht wütend, wenn Karremann bis ins Detail beschreibt, mit welch perfiden Methoden pädophile Täter nicht nur Kinder missbrauchen, sondern sich auch das Vertrauen der Eltern erschleichen, um es dann schamlos auszunutzen. „Nicht mit der Mutter, aber auch nicht ohne die Mutter“, dieser Satz gilt in der Szene als Grundregel. Doch nicht nur das: In diesen Kreisen man auch, wie man Kinder zum schweigen bringt, indem man ihnen Schuldgefühle einredet oder ihnen unterschwellig mit Liebesentzug droht. Die Methoden sind perfide und geradezu menschenverachtend. Nach außen hin wird das natürlich ganz anderes dargestellt. Dort ist dann von „einvernehmlicher Liebe“ die Rede, die vom Kind gewollt sei und deshalb nicht schädlich sein könne. Kaum ein Anderer entlarvt diese Lügen so eindrucksvoll wie Karremann.

Trotz unverkennbaren Enthüllungseifers warnt Karremann dennoch vor übertriebener Panik. Wenn ein Erwachsener sich z. B. mit einem Kind unterhält, dann sei dass noch kein Grund zum Einschreiten, schreibt er in seinen mehrfach eingestreuten Tipps für Eltern. Selbst wenn ein Erwachsener mit fremden Kindern Fußball oder Tischtennis spielt, sei das nichts Negatives. Erst wenn das Kind nach seinem Privatleben gefragt oder gar Einladungen ausgesprochen werden, sei höchste Vorsicht angesagt. Diese besonnene Abstufung rechne ich Karremann hoch an, denn in vergleichbaren Publikationen findet man sie selten.

Auch für den Fall, den man sich am wenigsten wünscht ‒ einen sexuellen Übergriff auf das eigene Kind ‒ weiß Karremann mit kompetenten Ratschlägen zu helfen, die zwar nichts ungeschehen machen, aber zumindest die Folgen lindern können. Ein Anhang mit nützlichen Adressen sowohl für Opfer, für Täter, als auch für Kinder und Eltern unterstreicht noch einmal den Ratgebercharakter des Buches. Eine solche Fülle an geballter Insiderinformation zu einem so schwierigen Thema ist einzigartig auf dem deutschen Buchmarkt, von daher ist es in jeden Fall ein empfehlenswertes Buch, dass es sich zu lesen und über das es sich zu diskutieren lohnt.

Nicht zu vergessen auch Karremanns Verdienste um die Kriminalistik: Dank seiner verdeckten Ermittlungen konnte er wertvolle Einblicke in die Organisationsstrukturen pädophiler Gruppierungen geben, lernte ihre Denkweisen und ihre Selbstbilder kennen. Das kann helfen, die Strategien pädophiler Täter in Zukunft noch besser einzuschätzen. Er machte publik, was Insider schon lange wussten: Viele Pädophilen-Aktivisten geben sich nach außen hin als seriöse Saubermänner, gründen so genannte „Selbsthilfe-Gruppen“, in denen sie angeblich für die Rechte einer sexuellen Minderheit kämpfen. Doch in Wahrheit führen sie oft ein kriminelles Doppelleben. Es ist der unbestrittene Verdienst von Manfred Karremann, dass er diese verlogene Szene so gekonnt entlarvt hat.

 

Die Schattenseiten

Die Schwäche von Karremanns Buch liegt in seiner Einseitigkeit. Pädophile kommen bei Karremann praktisch nur als Täter bzw. als potentielle Täter vor. Dass es auch eine andere Seite gibt – nämlich pädophil empfindende Menschen, die mit aller Kraft gegen ihre verhängnisvolle Neigung ankämpfen – davon erfährt man bei Karremann nur am Rande. Er stellt die Problematik der Pädophilie nicht in ihrer Gesamtbreite dar, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die radikale Szene. Damit bedient er ein ein uraltes Vorurteil: Der Pädophile als verschlagener, uneinsichtiger Krimineller, der nur darauf aus ist, Kinder auf rücksichtslose Weise für seine sexuelle Befriedigung zu benutzen. Dabei ist es unter Fachleuten längst bekannt, dass ein Großteil der Pädophilen ihre Neigung zu Kindern nicht auslebt. Der Präventionsgedanke und die neuesten Erkenntnisse der Berliner Charité werden von Karremann nur sehr stiefmütterlich behandelt. Erst im letzten Kapitel weist Jürgen Lemke auf die Notwendigkeit präventiver Hilfsangebote hin, in denen pädophil empfindende Männer lernen können, mit ihrer schicksalhaften Veranlagung umzugehen.

Hier kann ich die Kritik aus gemäßigten Pädophilen-Kreisen durchaus nachvollziehen. Auch ich meine, Karremann hätte noch deutlicher darauf hinweisen können, dass sich sein Buch nicht gegen die Pädophilen im Allgemeinen richtet, sondern nur gegen diejenigen, die ihre Sexualität ausleben und dafür auch noch nach Rechtfertigungen suchen. Der verzweifelte, nach Hilfe suchende Pädophile, der unter seinen Fantasien leidet und nicht weiß, an wen er sich in seiner Not wenden soll ‒ er ist Karremann allenfalls eine beiläufige Randnotiz wert.

Sehr unprofessionell wirkt auch eine Reihe an handwerklichen Fehlern, die sich durch das ganze Buch ziehen. So wird ein LKA-Beamter gleich zweimal mit der selben Aussage zitiert ‒ einmal ganz zu Anfang und ein weiteres Mal in der Mitte des Buches. Auch diverse Fallbeispiele aus den Medien werden mehrmals und in unterschiedlichen Zusammenhängen angeführt, beispielsweise die Geschichte des „guten Onkel vom Preysingplatz“, die 2003 in München für Aufsehen sorgte. Selbst der fundamentale Pädo-Grundsatz: „Nicht mit der Mutter, aber auch nicht ohne die Mutter“, wird immer wieder rezitiert.

Wenig fundiert ist auch Karremanns eingangs genannter Wert von angeblich 60.000 Pädophilen in Deutschland. Eine Zahl, die er zum Schluss selbst wieder in Frage stellt, indem er Prof. Beier zu Wort kommen lässt, der von rund 200.000 Betroffenen spricht. Als Leser fragt man sich, was man denn nun glauben soll. Angesichts solcher Schnitzer scheint es fast, als hätte Karremann sein Buch unter großem Termindruck geschrieben, ohne sich die Zeit zu nehmen, alles noch einmal in Ruhe zu überarbeiten.

Positiv wiederum ist das letzte Kapitel zu bewerten, in dem Jügen Lemke interessante Einblicke in seine Arbeit als Tätertherapeut gibt. Lemke stellt die Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Intervention anschaulich vor, bringt sogar ein konkretes Fallbeispiel, bei dem ein pädophiler Täter eine Therapie erfolgreich durchlaufen hat und nun in der Lage ist, sich von seinem früheren Verhalten zu distanzieren. Lemkes Ausführungen zeigen sehr deutlich, dass pädophile Sexualtäter nur mittels qualifizierter Therapie dazu gebracht werden können, ihr Verhalten zu hinterfragen und sich davon zu lösen ‒ nicht durch stupides Wegsperren oder den Ruf nach immer härteren Strafen.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass Karremann mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zum Kinderschutz leistet, indem er die Machenschaften einer kriminellen Szene öffentlich bloßstellt. Dem Phänomen der Pädophilie in seiner Gesamtbreite kann das Buch aber nicht gerecht zu werden, dazu ist es zu einseitig und zu subjektiv. Karremann betont zwar ausdrücklich, dass sein Buch „keine pauschale Anklage gegen alle Menschen mit pädophiler Neigung“ erheben will, dennoch kommt insbesondere der Präventionsaspekt zu kurz. Wer sich dem Kinderschutz verpflichtet fühlt, darf sich hinsichtlich der Pädophilen nicht darauf beschränken, vor ihnen zu warnen. Genauso wichtig ist das, was Co-Autor Jürgen Lemke im Schlusskapitel auf S. 227 anmahnt:

Eine sich als liberal und aufgeklärt gebende Gesellschaft, die zudem tragbare wirksame Lösungen zum Schutz ihrer Kinder durchsetzen möchte, muss diesen Menschen zu einem frühen Zeitpunkt niedrigschwellige Angebote machen.“

Es hätte das Buch in seinem Kinderschutzanliegen noch schlüssiger, noch überzeugender gemacht, wenn diese Aussage nicht erst im letzten Kapitel zu finden wäre.

aktualisiert: 30.04.2011