Montag, 22.10.2018

„Ich habe immer gefragt“


von Marco


7. April 2008:
In den letzten Jahren hatten zunehmend auch die abstinent lebenden Pädophilen ihre Chance in den Medien, besonders wenn über das Therapieprojekt der Charité berichtet wurde. Nun kommt in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ein Vertreter der anderen Seite zu Wort. Dem 36-jährige Peter M. aus der Schweiz ist es über viele Jahre hinweg nicht gelungen, gesetzeskonform mit seiner Sexualität umzugehen. Im Gespräch mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ berichtet er über seinen verhängnisvollen Werdegang als Sexualstraftäter:

„Ich habe immer gefragt"

Schon im Alter von 16 Jahren spürte Peter M. zum ersten Mal den Drang, sich Kindern sexuell zu nähern. In den darauf folgenden Jahren missbrauchte er insgesamt etwa 15 Mädchen, an deren genaue Zahl er sich nicht erinnern will. Er spielt den großen Freund der Kinder, bietet ihnen Kaugummis und Zigaretten an, schickt einem 11-jährigen Mädchen sogar Liebesbriefe. Irgendwann wird er erwischt, bekommt aber lediglich eine Therapieauflage von zwölf Sitzungen. Er missbraucht weiter Kinder, wird ein zweites Mal erwischt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seine Mutter ist es schließlich, die eine Therapeutin für ihn findet, die seine Problematik realistisch einschätzt.

Nach seinen biographischen Daten und seinen Tatmustern zu urteilen, ist Peter M. aller Wahrscheinlichkeit nach ein Kernpädophiler, der sich seit der Pubertät ausschließlich zu Kindern hingezogen fühlt. Im Nachhinein zeigt er sich einsichtig, gibt an, er sei sich heute zu hundert Prozent sicher, dass er sich niemals mehr an einem Kind vergehen werde. Ob seine Einsicht ehrlich ist oder ob er nur das von sich gibt, was die Journalistin von ihm hören will, lässt sich ohne persönlichen Eindruck nicht wirklich beurteilen. Seine Ausführungen sind jedenfalls erstaunlich offen, beschönigen und verklären nichts.

Kommen wir zur Bilanz des Artikels: Die überraschend ehrlichen Ausführungen dieses Mannes bestätigen das, was ich schon immer gesagt habe: Pädophile müssen praktisch nie Gewalt anwenden, denn mit Mitteln der subtilen Manipulation schaffen sie es auch so, ein Kind nahezu vollständig unter Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus macht der Artikel noch auf einen anderen wunden Punkt aufmerksam. Anhand der Geschichte von Peter M. wird nämlich deutlich, wie viele vergebliche Anläufe es oft braucht, bevor ein pädophiler Täter eine geeignete Therapie bekommt, in der man seine Problematik erkennt und damit umzugehen weiß. Nach der ersten Tat bekommt Peter M. eine Therapieauflage von lediglich zwölf (!) Stunden – ein erschreckender Beleg dafür, wie falsch man damals die Tragweite eingeschätzt hat, denn Sexualstraftäter brauchen eine intensive Begleitung über viele Jahre hinweg. Erst dann ist damit zu rechnen, dass eingefahre Verhaltensweisen und kognitive Verklärungen aufgebrochen werden können, so dass eine nachhaltige Verhaltensänderung zu erwarten ist.

Hinzu kommt, dass Peter M. seinem ersten Psychologen gegenüber nicht ehrlich gewesen ist, seine wahren Gefühle verschwiegen hat – auch dies eine denkbar ungünstige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Es ist aber auch oft auf die völlig unzureichende Fachausbildung vieler Therapeuten zurückzuführen, dass sie von ihren Patienten derart getäuscht werden können, ohne dass sie in der Lage sind, hinter die Fassade zu blicken. Was die mangelnde Qualifikation der Therapeuten angeht, dürften sich die Verhältnisse in der Schweiz auch nicht sonderlich von denen in Deutschland unterscheiden. Auch diese Problematik wurde im Artikel sehr gut heraus gearbeitet.

Außer mit Peter M. hat die Redakteurin auch mit zwei Experten gesprochen: Einer Opfertherapeutin und einem Forensiker, der mit Tätern arbeitet. Beide machen einen halbwegs kompetenten Eindruck, soweit sich das aus der Kürze ihrer Ausführungen herleiten lässt. Natürlich ist es für einen Journalisten immer problematisch, ein Porträt über einen Sexualstraftäter zu erstellen und ihm auf diese Weise Gelegenheit zur Selbstdarstellung zu geben. Damit setzt man sich leicht dem Verdacht aus, man wolle für solche Leute nur Verständnis auf Kosten der Opfer erwecken. Der Redakteurin Denise Jeitziner ist es für meine Begriffe jedoch gut gelungen, den pädophilen Peter M. angemessen zu portraitieren, ohne sich dem Verdacht der Tätersympathie auszusetzen. Ihre Reportage ist sachlich und präzise, arbeitet ohne unnötigen Pathos alle wichtigen Punkte heraus. Die Redakteurin bewahrt immer die notwendige Distanz zum Geschehen. Weder buhlt sie um übermäßiges Verständnis, noch macht sie den Protagonisten künstlich schlecht. Sie beschreibt ihn einfach als den Mann, der er ist: Einen Pädophilen, dem es lange Zeit nicht gelungen ist, verantwortungsvoll mit seiner Sexualität umzugehen, nun aber nach jahrelanger krimineller Karriere vielleicht doch noch den Absprung geschafft hat.

Vielleicht ist Peter M. die löbliche Ausnahme, denn viele andere schaffen diesen Absprung nicht, missbrauchen über Jahre hinweg Kinder und führen ein dauerndes Doppelleben in ständiger Angst vor der unausweichlichen Strafverfolgung. Hier liegt meines Erachtens die wichtigste Botschaft des Artikels, die allerdings nicht neu ist: Wir brauchen mehr qualifizierte und erfahrene Therapeuten, die sich mit der besonderen Problematik von Sexualstraftätern auskennen, insbesondere auch, wenn es um pädophile Täter geht. Wer sich als Pädophiler an einem Kind vergeht, braucht schnellstmöglich eine geeignete Therapie, und zwar gleich nach der ersten Tat und nicht erst nach dem dritten oder vierten Rückfall. Nur dann haben solche Leute die Chance, ihre Sexualität vielleicht doch noch in den Griff zu bekommen und ein dauerhaft straffreies Leben zu führen. Dann muss Peter M. nicht einer der ganz wenigen bleiben, der nach jahrelanger Täterschaft noch einen halbwegs Erfolg versprechenden Weg einschlägt. Diesen Zusammenhang auch der Öffentlichkeit zu verdeutlichen, dazu sind solche persönlichen Geschichten vielleicht eher geeignet als irgendwelche Ausführungen in abstrakten Fachartikeln.

Sehr schade finde ich, wenn Peter M. von sich selbst sagt, dass er bis heute keinen normalen Umgang mit Kindern gelernt hat. Das zeigt, dass er seine Problematik wohl niemals vollständig in den Griff bekommen und auch zukünftig Rückfall gefährdet bleiben wird. Ich weiß, dass es auch für Pädophile durchaus möglich ist, einen gefahrlosen Umgang mit Kindern zu erlernen, aber – auch das macht der Artikel sehr gut deutlich – eben leider nicht für alle. Besonders dann, wenn jemand über Jahre hinweg auf den falschen Weg geraten ist, dürfte es wohl kaum noch möglich sein, jemals wieder zu einem normalen und gesunden Umgang mit Kindern zu finden. Sie werden Zeit ihres Lebens daran arbeiten müssen, um niemals wieder rückfällig zu werden. Einige schaffen es, andere leider nicht. Hoffen wir, dass es wenigstens einem Peter M. gelingt!

aktualisiert: 30.04.2011