„Hölle im Kopf“ (mit Studiogespräch)
von Marco
10. April 2008: Normalerweise urteile ich ungern über Medienproduktionen, an denen ich selbst mitgewirkt habe, denn in solchen Fällen fehlt mir die kritische Distanz. Zur Erstausstrahlung des Radiofeatures „Hölle im Kopf“ am 9. April im Hörfunkprogramm von WDR 3 möchte ich aber ausnahmsweise doch ein paar Worte loswerden. Zunächst war ich erleichtert, dass auch in der vom WDR ausgestrahlten Kurzfassung noch alle wichtigen Statements von Jay-Jay (dem Charité-Patienten) und mir enthalten waren. Damit war sichergestellt, dass nicht nur die Täterseite zu Wort kam, sondern auch diejenigen, die auf das Ausleben ihrer Sexualität bewusst verzichten.
Nach wie vor stehe ich zu dem, was ich schon in meiner Vorankündigung am 29. März gesagt habe: „Hölle im Kopf“ ist eine gelungene und unbedingt hörenswerte Radiodokumentation mit einer Fülle an Fakten und Hintergrundinformationen. Das Thema Pädophilie wird in einer Tiefe und Differenziertheit behandelt, die man in unserer oftmals oberflächlichen Medienlandschaft nur selten findet. Besonders ein Christoph J. Ahlers (Sexualtherapeut an der Charité) präsentiert sich in Topform: Inhaltlich und sprachlich aufs Höchste versiert, versteht er es, auch komplexe Zusammenhänge treffsicher auf den Punkt zu bringen – ohne Worthülsen und ohne um den heißen Brei herumzureden. Auch die beteiligten Pädophilen äußerten sich in erstaunlicher Offenheit: Teils mit entlarvenden Andeutungen, teils mit ehrlich gemeinter Reflexion.
Sehr auffällig war allerdings die ungleiche Verteilung der Redeanteile, und zwar zugunsten der straffällig gewordenen Pädophilen. Die Sichtweise der verantwortungsvoll lebenden Pädos hätte mehr Raum verdient. Doch von Jay-Jay und mir wurden lediglich ein paar vereinzelte Sätze eingestreut, während rechtskräftig verurteilte Straftäter sich in epischer Breite darstellen durften. Mit meinem Verständnis von „Chancengleichheit“ hatte das wenig zu tun. Ich will dem Autor dafür keinen Vorwurf machen, denn ich habe Michael Lissek als einen sehr interessierten und gut vorbereiteten Journalisten kennen gelernt, der sich ernsthaft bemühte, das Thema von allen Seiten zu verstehen. Trotzdem unterlag auch er am Ende der Versuchung, das komplexe Phänomen der Pädophilie in erster Linie auf die Täterseite zu fokussieren – wahrscheinlich ohne es zu wollen. Eine Tendenz, die sich beim anschließenden Studiogespräch noch verstärkte. Für dieses Gespräch war allerdings nicht mehr Michael Lissek verantwortlich, sondern die Redaktion des WDR.
Zu Gast im Studio war Dr. Jürgen Leo Müller, Professor für Forensische Psychiatrie an der Universität Göttingen. Er stellte sich in den letzten 15 Minuten den kritischen Fragen der Moderatorin. Man muss Prof. Müller zugute halten, dass auch er um Differenzierung bemüht war und darauf hinwies, dass das Klientel der Charité sicherlich nicht mit den Patienten zu vergleichen sei, mit denen er als Forensiker zu tun habe. Trotzdem kam es, wie es kommen musste: Hat man einen Forensiker zu Gast, dann liegt es auf der Hand, dass sich das Gespräch eigentlich nur um Straftäter drehen kann. Diese einseitige Fokussierung am Schluss finde ich bedauerlich; schließlich wurde in der voran gegangenen Sendung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Pädophilie erstmal nur eine sexuelle Präferenz ist, die für sich genommen noch keine Täterschaft impliziert und auch strafrechtlich nicht relevant ist. Doch genau auf diese Ebene lief es später beim Studiogespräch wieder hinaus: Der Pädophile als notorischer Missbrauchstäter, als Fall für den Forensiker, als Gefahr für alle Kinder.
Fast schon pflichtgemäß wirkten da die abschließenden Fragen der Moderatorin, ob denn auch genug für die Opfer getan werde und welche Hilfen es für missbrauchte Kinder gebe. Alles berechtigte und wichtige Fragen, aber ich hätte mir gewünscht, dass man mehr auf die Möglichkeiten der Erstprävention eingegangen wäre, damit Männer mit pädophiler Neigung gar nicht erst zu Tätern werden. Natürlich war es kein Fehler, einen Prof. Müller einzuladen, trotzdem hätte man ruhig noch einen zweiten oder dritten Gast einladen sollen. Gäste, die eine andere Sichtweise präsentieren als die des Forensikers, der ja nur aus seiner Arbeit mit Straftätern berichten kann.
Ich frage mich, wie die Sendung unterm Strich wohl beim Hörer angekommen sein wird. Wird er die anfänglichen Worte eines Herrn Ahlers im Ohr behalten, die da sinngemäß lauten: Pädophilie ist nicht gleich Kindesmissbrauch? Oder wird man eher die abschließende Studiodiskussion in Erinnerung behalten, wo es nur noch um Kriminalstatistiken, um Rückfallzahlen und Sicherheitsrisiken ging? Ich fürchte eher Letzteres, dass nämlich der Durchschnittshörer sich am Ende wieder bestätigt sieht in seiner landläufigen Einstellung, Pädophilie und Kindesmissbrauch seien untrennbar miteinander verbunden.
So war es alles in allem eine lehrreiche und empfehlenswerte Hörfunkdokumentation, die vom Autor mit viel Sorgfalt erstellt wurde. Schwachpunkt war allerdings die zu einseitige Verteilung der Redezeit zugunsten der Täterseite. Diese einseitige Gewichtung gilt besonders für das abschließende Studiogespräch, das vom WDR ganz gezielt in Richtung Täterebene gelenkt wurde – vermutlich aus Gründen der Political Correctness. Ich nehme es dem WDR ohnehin nicht ab, dass man das Feature angeblich rein aus Jugendschutzgründen gekürzt hat. Vermutlich haben da einige WDR-Redakteure Druck von höherer Stelle bekommen, schließlich ist Pädophilie immer noch ein hochbrisantes Reizthema.
Wer „Hölle im Kopf“ noch nicht gehört hat, bekommt in diesem Jahr noch einmal die Gelegenheit dazu, denn am 3. September strahlt Deutschlandradio Kultur um 0.05 Uhr die ungekürzte Originalfassung aus. Es lohnt sich!