Montag, 22.10.2018

Pädophilie = Pädokriminalität?


von Marco


28. März 2009:
Die ständige Gleichsetzung von Pädophilie und sexuellem Missbrauch ist ein wesentliches Hemmnis in Sachen Kinderschutz, denn sie macht ein präventives Zugehen auf potentielle Täter bis heute extrem schwer. Leider ist diese Gleichsetzung auch in Fachkreisen immer noch weit verbreitet. Es gibt genügend Beispiele, wo selbst unter Fachleuten nicht zwischen sexueller Präferenz und sexuellem Verhalten unterschieden wird.

Dr. Anita Heiliger ist Soziologin und Buchautorin. Sie lebt in München und war dort bis 2006 am „Deutschen Jugendinstitut“ beschäftigt. Sie ist bekennende Feministin, engagiert sich in der Mädchen- und Frauenarbeit. Ihr Interessenschwerpunkt liegt nach eigenen Angaben in der Prävention und Bekämpung von sexueller Gewalt. Im April 2008 veröffentliche sie in der „Deutschen Jugend“ (einer Fachzeitschrift zur Jugendarbeit) einen Fachartikel mit dem Titel: Pädophilie. Definition, Selbstdarstellung, Strategien der Opfergewinnung und Möglichkeiten des Gegenhandelns“. Seit Kurzem ist der Artikel auf der Homepage von Anita Heiliger zum Download erhältlich:

Anita Heiliger / Downloads

Der Titel klingt kompetent und viel versprechend, doch gleich im ersten Satz fährt die Autorin schwerstes Geschütz auf:

Der Begriff ,Pädophilie` ist eine euphemistische Umschreibung von sexuellem Missbrauch an Kindern. ,Pädophilie` ist also Pädokriminalität.“

Mit dieser Äußerung ignoriert Heiliger die grundlegenden Fachbegriffe aus der Sexualmedizin. Der Begriff „Pädophilie“ ist eben keine Umschreibung für sexuellen Kindesmissbrauch, sondern die Bezeichnung für eine sexuelle Präferenz, die etwas darüber aussagt, was jemand fühlt und nicht, was jemand tut. Diese grundlegende Unterscheidung findet man nicht nur in allen neueren sexualmedizinischen Publikationen, sondern auch in den Diagnosekriterien der Weltgesundheitsoragnisation (WHO) und der American Psychiatric Assoziation (APA) Die Pädophilie-Definitionen in den beiden Standardwerken ICD-10 und DSM-IV-TR unterscheiden sich zwar im Detail, aber beide sprechen von Pädophilie als sexueller Präferenz ‒ und nicht etwa von einem Synomym für sexuellen Kindesmissbrauch.

Die pädophile Päferenz ist definiert als die sexuelle Erregbarkeit durch vorpubertäte Kinderkörper. Eine solche Präferenz kann dazu führen, dass jemand Kinder missbraucht, sie muss es aber nicht. Es gibt Pädophile, die ihre Sexualität ungeniert ausleben, andere leben dagegen abstinent und bleiben ihr Leben lang strafffrei. Nicht umsonst unterscheidet man in der Sexualmedizin zwischen sexuellen Präferenzstörungen und sexuellen Verhaltensstörungen. Das eine sind schicksalhafte Prägungen, die sich niemand ausgesucht hat und deshalb auch nicht diskrminiert werden dürfen. Das zweite sind inakzeptable Verhaltensweisen, mit denen die Rechte eines Anderen missachtet werden ‒ und für die der Täter sehr wohl die Verantwortung trägt. Warum Heiliger diese Unterscheidung vollkommen ignoriert, bleibt unverständlich.

Nicht nachvollziehbar ist auch die Aussage, der Begriff Pädophilie verschleiere „die Absicht der sexuellen Benutzung von Kindern“. Pädophilie als bloße Präferenz impliziert überhaupt keine Absicht, sondern nur ein Gefühl des Sich-Hingezogen-Fühlens zu Kindern. Was der Pädophile aus diesen Gefühlen macht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Niemand betreitet, dass es Pädophile gibt, die sich nicht für das Wohl des Kindes interessieren, sondern ausschließlich für ihre eigene Befriedigung. Ebenso häufig findet man aber auch die andere Seite, nämlich verantwortungsbewusste Pädophile, die unter ihren Gefühlen leiden, weil sie sich bewusst sind, dass sie ihre Sexualität niemals ausleben können, ohne dass sie Kindern damit schaden würden. Diese Leute werden allein gelassen und finden selten die therapeutische Unterrstützung, die sie im Interesse des Kinderschutzes dringend bräuchten. Therapieplätze und Präventionskonzepte für potentielle Täter gibt es bis heute kaum, obwohl der Bedarf riesig ist. Bei Heiliger findet man zu dieser Problematik kein einziges Wort. Stattdessen setzt sie ganz auf das Bild vom uneinsichtigen Neigungstäter, der nichts anderes als seine rücksichtslose Befreidigung im Sinn hat. Dieses Bild ist nicht grundsätzlich falsch, aber so extrem einseitig, dass eine differenzierte Auseinandersetzung (die wir im Sinne des Kinderschutzes dringend bräuchten) gar nicht erst aufkommen kann.

Ebenso haltlos ist die Behauptung, Pädophile seien in der Regel angeschlossen an Netzwerke Gleichgesinnter“, wo sie sich gegenseitig in ihrer „Vorliebe“ für Kinder bestätigen, sich gegenseitig ihrer ,Normalität´ versichern“. Als Beispiele solcher Pädophilen-Gruppen nennt sie die „Arbeistgemeinschaft humane Sexualität“ (AHS) und die AG Pädo“. Bei beiden handelt es sich um radikale Pädophilengruppen, die sich für eine Legaliserung sexueller Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen aussprechen. Auch hier fällt Heiligers selektive Wahrnehmung auf. Natürlich gibt es diesen Typus von Pädophilen, der fest von der einvernehmlichen Sexualität überzeugt ist und sich in zwielichtigen Gruppierungen politisch engagiert. Diese Leute sind aber nicht repräsentativ für die Mehrheit der Pädophilen.

Nach aktuellen Schätzungen der Charité kann man davon ausgehen, dass bei ca. 1% aller erwachsenen Männer zwischen 17 und 75 Jahren eine pirmärpädophile Ausrichtung vorliegt. Wäre auch nur die Hälfte davon in derartigen Vereinigungen aktiv, dann müsste es rein rechnerisch viel mehr solcher Gruppen geben. Dass dies nicht so ist, liegt zu einem großen Teil daran, dass die pädosexualistische Weltsicht von längst nicht allen Pädophilen geteilt wird. Die meisten Pädophilen, die ich kenne, hassen sich für ihre Neigung, selbst wenn sie nie einem Kind etwas getan haben. Als Folge dieser negativen Selbstbewertung werden sich depressiv, ziehen sie sich sozial zurück und haben nur wenig Kontakte. Die wenigsten würden jemals den Mut aufbringen, sich einer Selbsthilfebewegung anzuschließen, weil sie viel zu viel Angst hätten, sich jemandem zu offenbaren.

Nicht zu beanstanden sind Heiligers Ausführungen zu den Auswirkungen auf die Opfer von sexueller Gewalt. Pädosexuelle Kontakte bergen immer das hohe Risiko, ein Kind zu schädigen, so zitiert sie die Untersuchungen anderer Wissenschaftler, allen voran Urbanjok und Benz (Der pädosexuelle Täter“, in: Kriminalistik, 3/2005, S. 182-188). Richtig ist auch die daraus abgeleite Schlussfolgerung, solche Kontakte abzulehnen und unter Strafe zu stellen. Diese Ansicht gilt in der Sexualforschung als Konsens und sollte auch die Grundlage jeder verantwortungsvollen Pädophilenarbeit sein. Zutreffend ist auch Heiligers Darstellung der Täterstrategien: Ausnutzen eines psychisches und strukturellen Machtgefälles, emotionale Erpressung mittels Geschenken und Zuwendung, das Verstricken in Schuldgefühle sowie das Abwälzen der Verantwortung auf das Kind. Ganz am Schluss findet sich dann doch noch ein Mindestmaß an Differenzierung, als sie darauf hinweist, dass sexuelle Gefühle für Kinder gar nicht so selten wären:

Solch ein Eingeständnis bei entsprechenden Gefühlen ist nicht die Offenbarung einer Schwäche, sondern ein Nachweis von Professionalität zum Schutz der Kinder: der geforderten Selbstreflexion, der Bereitschaft, sich mit diesen Gefühlen zu konfrontieren und sie zu kontrollieren.“

Also doch noch ein später Appell an mehr Prävention? Vielleicht, doch dieser Satz verbessert den Gesamteindruck nur unwesentlich. Heiligers Pädophilie-Darstellung bleibt einseitig, selektiv, enthält zu viele Halbwahrheiten und Klischees. Am schwersten aber wiegt die völlige Falschverwendung (oder besser gesagt: Umdeutung) der sexualmedizinischen Fachbegriffe. Heiliger schreibt genau genommen nicht über Pädophile, sondern über einen ganz bestimmten Tätertyp; nämlich den pädophil fixierten Missbrauchstäter nach Urbanjok und Benz. Ein Tätertyp, den Heiliger gleichsetzt mit der Gesamtheit aller Pädophilen. Aus den Massenmedien ist man eine solche Undifferenziertheit gewohnt, aber die Fachleute tragen eine noch viel höhere Verantwortung. Ich unterstelle Frau Heiliger keine böse Absicht, aber von einer promovierten Sozialwissenschaftlerin, die seit Jahren mit dem Thema befasst ist und viele Bücher dazu beschrieben hat, muss man mehr Sorgfalt im Umgang mit Fachbegriffen erwarten.

aktualisiert: 30.04.2011