Guter Junge
15. April 2008: Pädophilie gehört zu den größten denkbaren Tabus in dieser Gesellschaft, doch es gibt auch Tabus innerhalb des Tabus. Dazu gehört die gern verdrängte Tatsache, dass es nicht nur verschrobene alte Männer sind, die Kinder begehren, sondern auch Teenager, die selbst gerade erst der Kindheit entwachsen sind. Eine pädophile Sexualität bildet sich in der Regel bereits im Jugendalter heraus. Das ist in der Fachwelt nichts Neues, in der Öffentlichkeit aber wenig bekannt.
Umso mehr ist es der ARD anzurechnen, dass sie sich traute, dieses heiße Eisen in ihrem Spielfilm „Guter Junge“ am 9. April zu thematisieren. Der Berliner Taxi-Unternehmer Achim (Klaus J. Behrendt) bleibt nach dem plötzlichen Tod der Mutter mit seinem 17-jährigen Sohn Sven (Sebastian Urzendowsky) allein zurück. Achim wird als machohaft charakterisiert, mit einer Neigung zu Alkohol und Sexaffären. Ganz anders als sein Sohn Sven: Ein verträumter und in sich gekehrter Teenager, der mit Gleichaltrigen wenig anfangen kann und sich nur für Jungs interessiert, die deutlich jünger sind als er. Der etwa 12 Jahre alte Patrick (Sandro Lohmann) ist sein Nachhilfeschüler, der ihn regelmäßig zu Hause besucht. Äußerst ungewöhnlich für einen 17-Jährigen, aber wer denkt schon gleich an Pädophilie? Achims neue Lebensgefährtin Julia (Gabriela Maria Schmeide) merkt als Erste, dass Sven schwere Probleme hat, hält ihn zunächst für schwul. Doch Achim will davon nichts wissen: „Der Junge hat gerade seine Mutter verloren!“ – mit dieser nahe liegenden Erklärung ist das Thema für ihn erledigt.
Die anfängliche Charakterisierung der Hauptpersonen verläuft langatmig und schleppend, doch dann geht es Schlag auf Schlag: Die Mutter von Svens Nachhilfeschüler stellt Achim zur Rede: Sein Sohn habe ihren Patrick gefilmt und dabei befummelt. Achim kann es nicht glauben: Wutentbrannt durchsucht er Svens Zimmer und findet die ominösen Videoaufnahmen. Sie zeigen, wie Sven kleine Jungs auf Spielplätzen anspricht, sie mit nach Hause nimmt, halbnackt filmt und in eindeutiger Weise berührt. Für Achim bricht eine Welt zusammen. Er rastet aus, schlägt im Affekt auf seinen Sohn ein und verordnet ihm eine „Radikaltherapie“: Gemeinsam verbrennen sie die Videobänder. Sven darf ab sofort keinen Kinderspielplatz mehr besuchen, sich nicht mehr mit seinem Nachhilfeschüler Patrick treffen und auch das Internet ist für ihn tabu. Seine Lebensgefährtin Julia behält noch am ehesten einen kühlen Kopf, erkundigt sich nach Therapiemöglichkeiten und rät Achim dringend, seinen Sohn in eine Therapie zu schicken. Doch Achim lehnt ab, aus Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung. Er will es auf seine Weise versuchen; glaubt immer noch, er könnte aus seinem Sohn einen „richtigen Mann“ machen, indem er ihn mit gleichaltrigen Mädchen zusammen bringt.
Doch Sven kann mit Mädchen seines Alters nichts anfangen und onaniert lieber zu Versandhausprospekten mit Kinderunterwäsche. Eine der nachhaltigsten Szenen liegt darin, als Sven seinem Vater einen solchen Katalog zeigt, auf einen der abgebildeten Jungen tippt und mit sehnsuchtsvoller Stimme sagt: „Das ist mein Liebling, ihn würde ich so gerne mal streicheln!“ In solchen Momenten bekommt der Zuschauer eine vorsichtige Ahnung, was es für einen 17-Jährigen bedeuten muss, wenn er entdeckt, dass er „anders“ ist als seine Altersgenossen. Genauso eindrucksvoll auch Achims verbaler Wutausbruch gegenüber Sven: „Du willst dich doch nicht dein ganzes Leben lang in deiner Wohnung einschließen und wichsen – was ist das denn für´n Leben???“ Doch genau das ist die sexuelle Realität, auf die man sich als Pädophiler einstellen muss – ob man will oder nicht. So viel bedrückende Authentizität findet man selten im Fernsehen, vor allem nicht im Spielfilmgenre.
Die Stärke dieses außergewöhnlichen Films liegt weniger in Spannung und Action (die natürlich auch vorhanden waren), sondern in der sorgfältigen Charakterstudie einer überaus ungleichen Vater-Sohn-Beziehung. Die schauspielerischen Leistungen waren hervorragend. Klaus J. Behrendt liefert als verzweifelter Vater eine genauso großartige Darstellung ab wie Sebastian Urzendowsky als wortkarger, innerlich zerrissener Teenager. Auch die wissenschaftliche Beratung durch die Charité merkt man dem Film an, denn die Figur des Sven war erstaunlich realistisch gezeichnet. Gezeigt wurde kein gewissenloser Gewaltverbrecher, sondern ein gefühlsbetonter und höchst sensibler junger Mann, der unter seiner Neigung schwer leidet, wenngleich sein Verhalten natürlich nicht akzeptabel ist.
Diese realistische Darstellung von Svens Charakter hat mich sehr berührt, denn auch ich kann mich gut erinnern, wie einsam und verunsichert ich mich fühlte, als mir mit 15 oder 16 Jahren zum ersten Mal bewusst wurde, wie sehr mich Kinder faszinieren. Auch ich konnte mit Mädchen meines Alters nichts anfangen, verliebte mich stattdessen in die Darsteller einer Kinderfernsehserie. Mein bester Freund war ein 11-jähriger Junge – wofür ich von Gleichaltrigen nicht ernst genommen wurde. Damals hat man mir selbst von fachlicher Seite versichert, das sei nur eine „vorübergehende Phase“, die wieder vorbei gehen würde. Ich bin sicher, solche Beschwichtigungen bekommen auch heute noch viele junge Pädophile zu hören. Die Folgen können fatal sein, denn nur, wenn man pädophile Jugendliche frühzeitig über ihre Sexualität aufklärt, können sie den richtigen Umgang damit erlernen. Wer ihnen falsche Hoffnungen macht, nimmt ihnen diese Chance und verleitet sie dazu, ihre Gefühle zu verdrängen, so dass sie einer Auseinandersetzung nicht mehr zugänglich sind.
Natürlich kann die Wahrheit hart und brutal sein, gerade für einen jungen Menschen. Es gibt aber keine Alternative zu dieser schmerzhaften Konfrontation, denn je früher man sich seinem harten, aber unausweichlichen Weg stellt, desto größer ist die Chance, dass man es schafft, ein Leben lang straffrei zu bleiben. Ich selbst habe heute als Erwachsener meinen Weg gefunden, aber ich hätte ihn viel früher finden können, wenn man mich bereits in jungen Jahren mit der Wahrheit konfrontiert hätte. So aber musste ich mich jahrelang in falsche Hoffnungen flüchten, die mich eine Menge Zeit und Lebensqualität gekostet haben. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen würde ich mir sehr wünschen, dass der Film seinen Teil dazu beiträgt, den Umgang mit pädophilen Jugendlichen neu zu thematisieren.
Lediglich das unerwartet bittere Ende stellt den Zuschauer zum Schluss noch einmal auf eine harte Probe. Trotz der Kontrolle durch seinen Vater erliegt Sven erneut der Versuchung. Wieder filmt er einen Jungen, wieder kommt es zu intimen Berührungen. Doch diesmal geht es schief: Der Junge gerät in Panik und läuft davon. Wenig später steht die Polizei vor der Tür, Sven muss in U-Haft. Am nächsten Tag besucht ihn sein Vater im Gefängnis, wartet im Besucherzimmer. Sven wird hineingeführt, sein Gesicht spiegelt sich in der Glasscheibe – Ende.
Viele wichtige Fragen bleiben offen: Wie lange muss Sven ihn U-Haft bleiben? Wird er verurteilt werden? Wird er jemals eine Therapie bekommen? Quälende Ungewissheiten, mit denen der Zuschauer allein gelassen wird. Hier hätte ich mir ein versöhnlicheres Ende gewünscht, beispielsweise in der Form, dass Sven eine Therapie beginnt, die ihm hilft, besser mit seiner Sexualität umzugehen. So aber wurde unterschwellig wieder einmal das Gefühl vermittelt, Pädophile seien eben doch nur „tickende Zeitbomben“, die ihre Begierden nicht unter Kontrolle halten können und zwangsläufig irgendwann im Gefängnis landen. Ich will Regisseur Thorsten C. Fischer und Drehbuchautor Karl-Heinz Käfer nicht unterstellen, dass sie dieses Klischee bewusst bedient haben, aber anscheinend trauten sie sich nicht, dem Film ein Happy End zu geben – wohl aus Angst, man könnte dem ernsten Thema damit nicht gerecht werden.
Wie sehr hätte man sich bei diesem Ende gewünscht, dass Achim auf den Rat seiner Lebensgefährtin gehört hätte, seinen Sohn in Therapie zu schicken. Ich glaube, genau hier liegt die Botschaft, oder besser gesagt der Appell des Films: Männer mit pädophilen Neigungen gibt es viele, sie leben völlig unerkannt mitten unter uns. Diese Männer haben ein Anrecht auf therapeutische Hilfe, damit sie nicht zu Straftätern werden. Wer diese Hilfe in Anspruch nimmt – sei es als Betroffener oder als Angehöriger – darf dafür nicht mit Ausgrenzung und Diskriminierung bestraft werden, sondern verdient Respekt für die Bereitschaft, sich seinem Problem zu stellen. Wenn die Mehrheit der Fernsehzuschauer diesen Appell verstanden hat (man kann es nur hoffen!), dann hätte der Film sein Ziel erreicht.