Guter Junge
von Stephan Doetsch
13. April 2008: Eines vorweg: „Guter Junge“ ist sicher kein Film für einen gemütlichen Fernsehabend, umrahmt von Salzgebäck und „Smal-Talk“-Gesprächen auf dem heimischen Sofa, selbst wenn die Sendezeit (20.15 Uhr) dies hätte vermuten lassen können.
Auch wenn der Film harmlos anfängt und den Taxi fahrenden Vater von Sven ein Stück bei seiner Arbeit begleitet, so wird doch von Anfang an eine gewisse Atmosphäre spürbar, die Schlimmes erahnen lässt. Dabei spielt Klaus J. Behrendt seine Rolle als unfreiwilliger Alleinerzieher bravourös, der nach dem Tod der verlassenen Ehefrau nun nicht mehr drumherum kommt, seine Verantwortung als Vater, der er sich über viele Jahre entzogen hat, zu übernehmen. Sehr schnell erkennt der Zuschauer, was Vater und Umwelt nicht wahrhaben wollen: Sven ist pädophil. Mit aller Macht versucht Papa, die unwiderrufliche Realität nicht an sich heran zulassen. Dabei lässt er sich einiges einfallen: Da ist die Fete des Arbeitskollegen, die er zu „Verkupplungsversuchen“mit dessen Tochter nutzen will, die im gleichen Alter wie Sven ist. Auch ein späteres, vom Vater gut vorbereitetes Date geht voll in die Hose. An dieser Stelle tat mir Sven so richtig leid: Irgendwo wollte er doch auch nur „normal“ sein, aber er konnte nun mal nicht aus seiner Haut heraus: Immer wieder wird er von Jungs angezogen, die er filmt und mithilfe seiner Masche, einem Interview als Rollenspiel, an sich zu binden versucht. Auch wenn es schwer für den Zuschauer zu ertragen ist: Gerade in jenen Filmpassagen, in denen sich Sven mit Kindern in Kontakt begibt, wirkt er besonders authentisch; da kann er sein, wie er wirklich ist, fühlen wie er wirklich fühlt.
Gerade dadurch aber wird die Problematik und Tragik der pädophilen Neigung ganz besonders deutlich: Was für einen Menschen mit heterosexueller oder homosexueller Ausrichtung selbstverständlich ist, nämlich ein Stück Erfüllung seiner Identität durch die Liebe zu einem Gegenüber zu finden, wird für Sven wohl niemals Wirklichkeit werden. Er lebt in einer Traumwelt, die ihm offenbar ein Stück Sicherheit und Geborgenheit gibt. Gut gefällt mir, dass die Beziehung zu seinem Freund Patrick nicht unmittelbar erkennen lässt, wo da Schaden entstanden ist oder noch entstehen könnte. Ich möchte noch weiter gehen: Ich bin mir sicher, dass Sven (auch) viel Positives für Patrick bewirkt hat. Gemein ist beiden, dass sie eine problematische Kindheit mit nur einem Elternteil erfahren haben. Damit allerdings hier kein Missverständnis entsteht: In der Realität sollte jedoch für einen verantwortungsbewussten Pädophilen alleine die nicht auszuschließende Möglichkeit eines Schadens oder Spätschadens ausreichen, um von seinem Handeln Abstand zu nehmen. Dies meine ich in erster Linie bezogen auf das Ausleben der sexuellen Bedürfnisse pädophiler Menschen an Kindern!
Auch wenn der Film an einigen Stellen sehr offen die Beziehungen Svens zu „seinen“ Kindern darstellt, so wirkt er in dieser Hinsicht nie aufdringlich oder überzogen. Was den Film letztendlich für den Betrachter so schwer verdaulich macht: Der Zuschauer nimmt Sven seine Gefühle zu Kindern voll ab; dabei klingt mir immer noch der Satz in den Ohren, den Sven in einem Streitgespräch seinem Vater entgegen schleudert: „Wer jemanden liebt, der kann ihm nicht weh tun!“ Ja, hier wird es sehr klar: Svens Liebe zu Kindern fühlt genauso, das spürt man hier deutlich! Und dennoch lebt er in einer anderen Welt als seine Auserwählten; da kann er sich noch so sehr bemühen, nicht erwachsen zu werden, es wird ihm nicht gelingen, ein Kind zu bleiben. An dieser Stelle sei mir dann allerdings auch eine kritische Bemerkung erlaubt: Ich fand die Darstellung, wie Sven in seiner Kindheit verhaftet geblieben war, etwas zu dick aufgetragen: Die „Märchenschatulle“ die seit vielen Jahren auf seinem Nachttisch steht, das Zimmer, das immer noch so eingerichtet ist, wie es bereits vor vielen Jahren war..., all dies erscheint mir ein wenig überzogen. Aus diesem Grunde möchte ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es wissenschaftlich noch immer nicht klar ist, woher bzw. wodurch ein Mensch seine pädophile Ausrichtung erhält. Auch wenn z. B. eine schwierige Kindheit mit traumatischen Erlebnissen sicher ein wichtiger Faktor dabei sein kann, so wäre eine Reduzierung alleine hierauf nicht angemessen und könnte sogar den Eindruck erwecken, dass Pädophilie therapierbar im Sinne einer Heilung wäre.
Fazit: Ein sehr gelungener Film mit hervorragenden schauspielerischen Leistungen vor allen Dingen von Sebastian Urzendowsky als Sven und Klaus J. Behrendt als Vater. Ich beglückwünsche die ARD zu ihrem Mut, ein solch heikles Thema so offen und insgesamt doch sehr differenziert anzugehen!