Montag, 22.10.2018

Fass mich nicht an!


von Marco

 

6. Oktober 2010: Das Thema Pädophilie scheint Manfred Karremann nicht loszulassen. Nach dem Ende seiner spektakulären Undercover-Mission im Jahr 2003 hat er nicht nur ein Buch (Es geschieht am hellichten Tag) über seine Erfahrungen geschrieben, sondern in den folgenden Jahren auch noch mehrere Fernsehreportagen gedreht, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Pädophilie, sexuellem Missbrauch und Kinderschutz befasst haben. Karremanns Reportagen waren zumeist sorgfältig recherchiert, bekamen gute Kritiken und wurden ‒ wen sollte es wundern? ‒ vor allem von der Pädophilen-Szene sorgsam verfolgt.

In seiner neuesten Reportage, die gestern Abend im Rahmen der 37°-Reihe im ZDF lief, hat Karremann drei pädophile Missbrauchstäter begleitet, die vor kurzem aus der Haft entlassen worden sind. Männer, die Kinder sexuell missbraucht haben und deswegen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Karremann zeigt, wie diese Männer nach der Haftentlassung leben ‒ und was die Justiz tut, damit diese Männer hoffentlich nie wieder ein Kind missbrauchen. Da gibt es für jeden entlassenen Täter ein umfangreiches Programm zur Rückfallprävention ‒ ob es ihm passt oder nicht. Da werden z. B. Umschulungen in Berufe ohne Kinderkontakt verordnet. Daneben gibt es umfangreiche Therapieauflagen, auch eine engmaschige Überwachung durch Polizei und Bewährungshelfer ist heutzutage schon selbsverständlich. Ob diese Rückfallprogramme immer konsequent umgesetzt und überwacht werden, ist eine andere Frage. Mit Sicherheit gibt es auch hier vielerorts noch Lücken und Verbesserungsbedarf, aber Karremann Botschaft wird deutlich: Die staatlichen Stellen sind nicht so tatenlos, wie es ihnen oft unterstellt wird. Im Gegenteil: Die von der Justiz verordneten Therapieprogramme sind sinnvoll investiertes Geld, die entlassene Straftäter vor Rückfällen bewahren und weitere Opfer verhindern können. Solche Aussagen mögen in der Öffentlichkeit nicht gerade auf Verständnis stoßen, aber genau das macht Karremanns Qualität aus: Seine Reportagen sind sachkundig recherchiert, er bewegt sich sicher auf dem schmalen Grat zwischen naiver Verharmlosung und bloßem Populismus.

Eine Schlüsselbedeutung kam dann noch einmal dem letzten Satz zu, der Arbeitgeber und Kollegen, insbesondere aber auch Eltern zu mehr Wachsamkeit auffordert, anstatt ihre Kinder einfach „gutgläubig bei Onkel Fred in Obhut“ zu geben. Damit delegiert Karremann die Verantwortung für die Rückfallprävention zumindest teilweise dorthin, wo sie vermutlich am wirkungsvollsten ist; nämlich bei den Eltern bzw. beim unmittelbaren Umfeld, wo man ‒ so Karremanns Vorwurf ‒ oft nach zu gutgläubig ist ist und nicht genau genug prüft, wem man seine Kinder unter welchen Umständen anvertraut. Das soll den Staat zwar nicht aus der Verantwortung nehmen, aber der Staat kann nicht ‒ wie Karremann richtig feststellt ‒ bis in die privatesten Ecken der Familien und anderer sozialer Räume blicken. Dort nämlich finden auch Sexualstraftäter immer noch ihr hauptsächliches Betätigungsfeld. Deshalb werden aufrichtiges Interesse am Kind und Aufmerksamkeit gegenüber seinem Umfeld auch in Zukunft einen ganz wesentlichen Faktor darstellen, wenn es darum geht, Kindern vor Sexualstraftätern zu schützen. Das ist zwar nichts Neues, aber man kann es nicht oft genug betonen. Auch hierin liegt ein besonderer Wert von Karremans Reportagen.

Bei aller positiven Kritik bleibt aber die Frage, warum Karremann das Thema Pädophilie ‒ das ja höchst vielfältig ist ‒ fast auschließlich auf pädophile Straftäter reduziert. Karremann hat zwar mehrmals betont (z. B. in seinem Buch), dass nicht alle Pädophilen ihre sexuelle Ausrichtung auch ausleben, aber solche Beteuerungen wirken bei ihm oft wie Pflichtbekundungen. Wirklich zu interessieren scheint ihn das Leben der enthaltsam lebenden Pädophilen nicht; in seinen Reportagen und Büchern kommen sie nicht vor. Karremann scheint sich nicht einmal ansatzweise damit befasst zu haben, welche Sorgen und Probleme man als straffrei lebender Pädophiler hat, welche Vorurteile einem das Leben schwer machen, wie sehr man unter der Ächtung und Stigmatisierung der Gesellschaft leidet. Dabei gehört das zu einer umfassenden Betrachtung der Pädophilie genauso dazu wie die Täterseite.

Karremann Desinteresse an den enthaltsam lebenden Pädophilen ist aus zweierlei Gründen schade. Zum einen passt es nicht zu Karremanns eigenem Anspruch als „Pädophilie-Fachmann“ unter den Journalisten. Karremann beschäftigt sich seit fast zehn Jahren mit dem Thema und muss wissen, dass es darin genügend Facetten gibt, die weit über die Täterproblematik hinausgehen, so schlimm sie auch ist. Andererseits ist es schade für den Gedanken der Prävention, den sich ja auch Karremann auf die Fahnen geschrieben hat. Aus den Lebensläufen abstinent lebender Pädophilen könnten sich nämlich wertvolle Anhaltspunkte ergeben, wie man anderen Betroffenen helfen könnte, verantwortungsvoll mit ihrer Neigung umzugehen ‒ und Täterkarrieren gar nicht erst entstehen zu lassen. Vielleicht könnte ja genau hier eine zukünftige Herausforderung auch für Manfred Karremann liegen, der das Täterthema inzwischen einigermaßen erschöpfend abgehandelt hat. Mit einer größeren thematischen Offenheit würde Karremann auch der radikalen Pädophilen-Szene den Wind aus den Segeln nehmen, wo man ihm ja immer vorwirft, er würde alle Pädophilen pauschal zu Tätern abstempeln. Das tut er zwar nicht (ich habe ihn persönlich erlebt), aber er konzentriert sich dennoch sehr einseitig auf die Täterseite, so dass er dem Thema Pädophilie in seiner Gesamtheit eben nicht vollständig gerecht wird.

aktualisiert: 03.05.2011