Montag, 22.10.2018

TV-Kritik: Außer Kontrolle

 
von Marco


3. Oktober 2007:
Manfred Karremann ist ein alter Hase im Geschäft, wenn es um das Thema Pädophilie geht. Vor gut vier Jahren sorgte der freischaffende Journalist für viel Wirbel, als er sich unerkannt in die Berliner Pädophilen-Szene einschleuste und Einblicke präsentierte, wie es sie zuvor nie gegeben hatte. Man durfte gespannt sein, wie er das Thema diesmal anging.

Seine neueste Dokumentation mit dem Titel „Außer Kontrolle – Kindesmissbrauch und Prävention“ lief gestern Abend in der 37°-Reihe des ZDF, die für ihren einfühlsamen Umgang mit sozial schwierigen Themen bekannt ist. Diesmal versuchte sich Karremann nicht als Undercover-Agent, sondern setzte ganz auf die klassische Reportage. Es ging um Tätertherapien und um die Rückfallprävention verurteilter Sexualstraftäter, dargestellt anhand persönlicher Einzelschicksale. Vorgestellt wurde zunächst die Geschichte von Thomas, einem ehemaligen Exhibitionisten, der sich einst auf Spielplätzen herumtrieb und dank freiwilliger Kastration nun ein straffreies Leben führt. Ausführlich zu Wort kam auch Gerd; ein inhaftierter Pädophiler, der sich mehrfach an kleinen Jungs verging. Als Freigänger im offenen Vollzug nimmt er an einer externen Therapie teil, um seinen immer noch ungewöhnlich starken Trieb in den Griff zu bekommen.

Auch die Opferseite kam zu Wort. Eine Frau, die als kleines Mädchen von ihrem Großvater missbraucht wurde, schilderte offen ihren Leidensweg und machte deutlich: Die Wunden heilen nie, es bleibt immer etwas zurück, an dem man sein Leben lang zu tragen hat. Zwischendurch gab es Stellungnahmen von Fachleuten wie Therapeuten oder BKA-Fahndern. Fast schon obligatorisch: Die Erwähnung der Charité und natürlich – wie konnte es anders sein – ein Interview mit Prof. Beier. Auch ein Hilfe suchender Projektteilnehmer – selbst noch nie straffällig geworden – wurde vorgestellt und durfte seine Geschichte erzählen. Besonders eindrucksvoll war auch diesmal wieder Beiers Plädoyer, zwischen der bloßen Neigung und dem sexuellen Verhalten zu unterscheiden. Insofern hat sich Karremann schon bemüht, Pädophile nicht einzig als uneinsichtige Triebtäter darzustellen, sondern angemessen zu differenzieren. Besonders hervorhebenswert auch die Feststellung, dass längst nicht alle Missbrauchsfälle von Pädophilen begangen werden, sondern oft auch von ganz anderen Tätergruppen, von denen hier der innerfamiliäre Inzesttäter erwähnt wurde.

Karremann berichtete weitgehend unspektakulär und ohne große Effekthascherei. Die Botschaft kam dadurch umso besser zum Tragen: Mit platten Parolen á la „Wegsperren auf Lebenszeit“ ist es nicht getan, sondern der einzig wirkliche Opferschutz liegt in der gezielten Rückfallprävention. Den Tätern muss mittels Therapie die Verwerflichkeit ihres Tuns vor Augen geführt werden, nur so bekommen sie das innere Rüstzeug, sich weiterzuentwickeln. Die vorgestellten Einzelschicksale belegen es: Für jeden Pädophilen, der den ernsthaften Willen hat, an sich zu arbeiten und sein Verhalten in Frage zu stellen, gibt es auch eine Perspektive. Selbst wenn jemand straffällig geworden ist, muss es nicht zu spät sein. Karremanns Recherchen zeigen auch: Ohne therapeutische Begleitung schaffen es die Wenigsten. Vielleicht ist dies mit ein Grund, warum die Rückfallquote bei Sexualstraftätern so hoch ist. Es gibt zu wenig geeignete Therapieplätze und zu wenig Therapeuten, die auf das Problem der Sexualdelinquenz spezialisiert sind.

Von daher verstehe ich Karremanns Film als den eindringlichen Appell, alles daran zu setzen, ein funktionierendes Netz an qualifizierten Therapieplätzen zu schaffen und die bestehenden Strukturen weiter auszubauen. Wer einfach nur weggesperrt wird, bleibt eine stetige Gefahr. Wer eine qualifizierte Therapie bekommt, hat dagegen die Chance, irgendwann wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden und damit sehr viel weniger rückfallgefährdet zu sein. Wo immer diese Chance besteht, sollte man sie nutzen, gerade im Sinne des Opferschutzes. Immer vorausgesetzt natürlich, der Betroffene hat den ernsthaften Willen, sich helfen zu lassen und an sich zu arbeiten. Prof. Beier hat es sehr gut auf den Punkt gebracht: Die nicht therapiewilligen Täter muss die volle Härte des Gesetzes treffen, wer jedoch ein Problembewusstsein hat, der muss alle nur erdenkliche Hilfe bekommen. Das war für mein Dafürhalten auch die Kernbotschaft von Karremanns Reportage: Es liegt an der Gesellschaft, geeignete Hilfsangebote und ausreichend Therapieplätze bereit zu stellen, sowohl für vorbestrafte als auch für nicht-strafffällig gewordene Pädophile. Es ist aber auch die ureigene Pflicht der Pädophilen, diese Hilfe anzunehmen und das Beste daraus zu machen.

Trotz dieser eindeutig positiven Aspekte bleibt bei mir ein zweischneidiger Nachgeschmack zurück, denn es gab auch eine Kehrseite: Pädophile wurden nämlich wieder einmal nur im Zusammenhang mit Täterschaft und sexuellem Missbrauch erwähnt. Dazu passte auch das abschließende Resümee mit der sinngemäßen Aussage: Es bleibt immer ein Risiko, auch eine Therapie bietet keine absolute Sicherheit. Das ist zwar richtig, aber so eine Aussage ausgerechnet als Schlusswort bestärkt nur das gängige Vorurteil vom Pädophilen als „tickender Zeitbombe“. Da konnte auch das Portrait des Charité-Patienten, der selbst nie straffällig wurde, kein ausreichendes Gegengewicht mehr bilden.

Sollte es Karremanns Anspruch gewesen sein, speziell über Tätertherapien zu berichten, dann hat er sicherlich nicht viel falsch gemacht. Wenn es aber das Ziel gewesen sein sollte, das Phänomen Pädophilie in seiner Gesamtbreite darzustellen, dann war sein Ansatz zu kurz gegriffen. Dann hätte man nämlich auch Beispiele von Pädophilen herausgreifen müssen, die niemals einen sexuellen Übergriff begehen, sondern ihre Sexualität zeitlebens auf der Fantasieebene halten können. Die Realität kennt beide Seiten, letztere war aber eindeutig unterrepräsentiert. Dafür möchte ich Karremann keine böse Absicht unterstellen, den Vorwurf eines leicht einseitigen Blickwinkels muss er sich aber schon gefallen lassen. Möglicherweise stand Karremann hier immer noch unter dem Eindruck seiner Undercover-Mission, wo er ja leider nur die hässliche Seite der Pädophilie kennen gelernt hat. Dennoch war es alles in allem eine sehenswerte Reportage, die einiges an Informationen und Diskussionsgrundlagen zu bieten hatte.

aktualisiert: 30.04.2011