Sexobjekt Kind
von Marco
13. Januar 2010: Mit „spannenden und informativen Dokumentationen“ wirbt der NDR für seine neue Dokumentationssreihe „45 Min.“, die es zukünftig jeden Dienstag um 22.30 Uhr im Fernsehprogramm des NDR zu sehen gibt. Zur Premiere am 12. Januar gab es ein Thema, wie es kontroverser und emotionsgeladener kaum sein kann, nämlich sexuellen Kindesmissbrauch. NDR-Redaktuer Sebastian Bellwinkel ging der Frage nach, warum die Opferzahlen so erschreckend hoch sind in einer Gesellschaft, die den Kinderschutz als eines ihrer wichtigsten Ziele ausgibt.
Es war keine leichte Kost, die der NDR zum Auftakt seiner neuen Sendereihe bot. Die Missstände, die Sebastian Bellwinkel aufdeckt, tun weh. Es beginnt mit Oberstaatsanwalt Peter Vogt, der den Zuschauer über die unvorstellbar brutale Welt der Kinderpornos aufklärt. Gemeisam mit LKA-Ermittler Torsten Meier beklagt er die personell völlig überlasteten Strafverfolgungsbehörden, die mit ihrer Ermittlungsarbeit kaum noch hinterher kommen. So manches Strafverfahren musste schon eingestellt werden, weil das belastende Material nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Frist ausgewertet werden konnte. Selbst eindeutig kinderpornographische Dateien mussten mitunter an die Beschuldigten zurückgegeben werden ‒ ohne strafrechtliche Folgen. So manchem Zuschauer mag es die Zornesröte ins Gesicht getrieben haben angesichts solcher Zustände.
Sexualmediziner Prof. Bosinski von der Universität Kiel erklärt, dass nur ein Bruchteil der Missbrauchstäter fachärztlich begutachtet wird, so dass eine zukünftige Gefahreneinschätzung kaum möglich ist. Weiteres Problem: Auch im Gefängnis werden die wenigsten Täter therapiert, so dass sie nach ihrer Entlassung hochgradig rückfallgefährdet bleiben. Doch selbst wenn die Justiz mehr Gutachter anfordern würde: Es gibt sie einfach nicht, weil die wenigsten Fachleute dazu ausgebildet sind, mit Sexualdelinquenten zu arbeiten. Natürlich durfte in so einer Sendung auch die Charité mit ihrem Projekt Dunkelfeld nicht unerwähnt bleiben, wobei Prof. Beier ein weiteres Mal bestätigte, dass es auch für nicht straffällig gewordenen Pädophile zu wenig Therapieplätze gibt.
Interessant waren auch die Interviews mit den Streetworkern der „Berliner Jungs“, die einiges über pädosexuelle Täterstrategien zu berichten wussten. Auch hier schwang wieder ein herber Schuss Gesellschaftskritik mit, denn in der Regel sind es die bindungslosen und sozial vernachlässigten Kinder, die in die Fänge der Pädosexuellen geraten. Bellwinkel versuchte, möglichst viele Seiten zu Wort kommen zulassen; vom Sexualmediziner über Staatsanwalt und Richter bis hin um einsitzenden Kindsmissbraucher. Ein wenig unterrepräsentiert war lediglich die Opferseite. Was sexueller Missbrauch für die betroffenen Kinder konkret bedeutet, darüber erfuhr man nur wenig. Sehr eindrucksvoll war dagegen das Gespräch mit dem 15-jährigen Mädchen. Ihr Appell an potentielle Täter, sich rechtzeitig helfen zu lassen, hat mich als pädophil empfindender Mensch tief berührt.
Die Liste der Missstände ist für Kenner der Materie nicht neu, wird der Öffentlichkeit aber selten so eindringlich vor Augen geführt. Bellwinkels Fazit: Der Staat wird seiner Verantwortung für den Schutz der Kinder nicht gerecht. Die dadurch entstehende Lücke wird größtenteils durch private Verbände mit ihrer ehrenamtlichen Aufklärungsarbeit gefüllt. Aus der Politik kommen meist nur wahlkampfwirksame Populismen ohne Substanz (Stichwort: Internetsperren). Wirklich durchdachte Konzepte gibt es kaum ‒ und wenn, dann scheitern sie spätestens am fehlenden Geld. Auch der Ausblick war eher trostlos, denn: „Ein politisches Konzept zum Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt habe ich gesucht, aber nicht gefunden. Dabei werden jährlich schätzungsweise 200.000 Mädchen und Jungen sexuell missbraucht ‒ mehr als 500 Kinder jeden Tag.“, so Bellwinkel in seinem Schlusswort. Lösungen hat auch Bellwinkel nicht, aber er legt den Finger in die Wunden und zeigt, wo der Handlungsbedarf am größten ist.
An einigen Stellen betrachtet Bellwinkel die gewonnen Informationen allerdings ein bisschen zu unkritisch. Ausgerechnet England als Musterbeispiel einer vorbildlichen Kinderschutz-Politik anzupreisen, ist mehr als fragwürdig. Dort darf z. B. niemand mehr ehrenamtlich mit Kindern arbeiten, ohne sich vorher eine staatliche Genehmigung einzuholen. Eine derart paranoide Kinderschutz-Bürokratie muss jede noch so gesunde Gesellschaft früher oder später vergiften. Ich kann mir nicht vorstellen, das sich jemand solche Zustände ernsthaft auch für Deutschland wünscht. Hier hätte sich der Redakteur ruhig ein wenig schlauer machen können, wovon er überhaupt spricht. Überhaupt scheint Bellwinkel immer nur nach dem starken Staat zu rufen. Dies ist überall dort gerechtfertigt, wo es um die ureigenen Verpflichtungen des Staates geht, nämlich Gesetzgebung, Polizei und Justiz. Kinderschutz aber ist mehr als die Summe von Gesetzen und Verordnungen. Kinderschutz beginnt mit der persönlichen Verantwortung eines jeden Einzelnen; jeder von uns ist gefordert, diese Welt ein kleines Stück kinderfreundlicher zu machen. Jeder von uns ist aufgerufen, im Rahmen seiner Möglichkeiten hinzusehen, nachzuhaken und sich einzumischen. Wenn man alle Verantwortung auf den Staat schiebt, dann haben wir irgendwann die gefürchtete Big-Brother-Mentalität, die sich jetzt schon in England abzeichnet.
Leider ist das Thema anfällig für einseitige Betrachtungen aller Art. Bellwinkel hat sich dazu letztendlich nicht hinreißen lassen, stand aber einige Male haarscharf davor. Alles in allem war ein respektierlicher Auftakt zur neuen Dokumentationsreihe des Norddeutschen Fernsehens. Wenn Bellwinkel und Kollegen bei kommenden Themen genauso konsequent nachhaken, kann sich hier durchaus ein interessantes neues Format etablieren.